Was für ein Zufall! Oder gab es eine Verbindung? Hatten er und Mercurin sich bereits vorher gekannt? Nein, das konnte nicht sein – Hel erinnerte sich, dass Mercurin nicht gewusst hatte, was Isen waren, und auch beim Kampf im Wald hatte er ihn mehrmals gefragt, wer er sei.
Gleich am nächsten Morgen suchte sie Olowain auf, um es ihm zu sagen. Er war aufgeregt wie ein kleines Kind, schickte sofort Eilige Federn nach Har’punaptra und zu allen großen Städten der Umgebung, um Informationen über einen isischen Söldner einzuholen. »Ein Jammer, dass die Windige Stadt nicht mehr existiert!«, rief Olowain dann und schlug sich mit der Faust in die offene Hand. »Dann könnten wir genau erfahren, wie er heißt und wo er sich herumtreibt. Aber gut, dass er offenbar kein Rebell ist! Jedenfalls damals noch nicht. Man weiß ja nie, wie sie sich wandeln ... ein Söldner also. Einer, der sein Schwert für Geld verleiht. Keiner mit Prinzipien ... sehr gut, sehr gut, sehr gut!«
»Aber dann ist er doch unberechenbar, oder?«, warf Hel ein. »Ist das denn gut?«
»Lieber ein unberechenbarer Zerstörer als ein fanatischer Rebell mit hehren Zielen. Das heißt ...« Olowain rieb nachdenklich seinen Stab, plötzlich nicht mehr so begeistert wie gerade eben. »Vielleicht lässt er sich von den Aufständischen kaufen. Nun. Dann müssen wir ihnen zuvorkommen. Wir haben jedenfalls mehr zu bieten!«
Seine Zuversicht konnte Hel nicht aufmuntern. Die ganze Sache bedrückte sie, und wenn sie an die Zukunft dachte, dann tat sich nur ein dunkler Abgrund auf.
Später, als sie zurückging, traf sie Nova auf der Brücke zwischen West- und Nordturm. Er beugte sich über die breite Steinbrüstung und blickte auf die Stadt am Ufer hinab. Es war warm, aber windig; mächtige Wolkenmassen balgten sich im Himmel und veränderten ständig das Licht. Es schien, als könnte sich der Tag nicht entscheiden, ob er heiter oder betrübt sein wollte.
Hel lehnte sich neben Nova gegen die Brüstung.
»Hat Olowain schon angekündigt, wann wir aufbrechen werden?«, fragte Nova.
Hel schüttelte den Kopf. »Meister Palairon hat ihn beauftragt, erst herauszufinden, wo die Totenlichter liegen könnten – falls sie noch nicht von den Dämonen geholt wurden. Die Magierschaft rechnet jedenfalls nicht damit, dass das Alte Reich sich auf irgendeinen Handel oder ein Bündnis einlässt ... sie wollen die Totenlichter, und sie wollen die Dämonen, und sie verlassen sich nicht auf Drohungen.« Sie hielt inne. Dann setzte sie hinzu: »Ich frage mich, was das Alte Reich mit den Totenlichtern vorhat.«
»Wahrscheinlich Aradon zurückerobern ... oder die Magierschaft erpressen, ihnen Land zu geben. So etwas in der Art.« Nova rieb die Handflächen aneinander. »Mich interessiert viel mehr, was die Magier mit den Totenlichtern vorhaben.«
Hel strich sich die Haare aus dem Gesicht und sah ihn an. Sie hatte noch gar nicht daran gedacht, dass die Magier die Totenlichter würden nutzen können; sie war bis jetzt davon ausgegangen, dass sie sie nur in Verwahrung nehmen wollten, damit niemand anders Schaden damit anrichten konnte. Doch jetzt, wo Nova in eine andere Richtung wies, begann sich der Verdacht in ihr zu drehen.
»Ich habe mich schon gefragt, wie wir den Isen ... also, wie man ihm das Totenlicht nehmen soll, denn dafür müsste man ihn ja umbringen, und wer ihn umbringt, wird dann der neue Träger des Totenlichts«, sagte sie zögernd. »Ich denke, Olowain tüftelt noch an einer Lösung für dieses Problem.«
Nova schnaubte. »Ich glaube nicht, dass die Magierschaft darin ein Problem sieht. Überleg mal, was sie mit einem Totenlicht anstellen würden. Sie würden die Isen unterdrücken, erstens.« Er tippte sich gegen den Daumen. »Dann würden sie ins Alte Reich einmarschieren. Für all das unverbrauchte Lirium, das es noch hinter den Kauenden Klippen geben muss, wären sicher viele Magier bereit, zum Dämon zu werden. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, welche Gabe die Totenlichter verleihen: Man kann das Licht aus der Erde ziehen, aber auch aus anderen Lebewesen. Die Magier hätten unbegrenzte Quellen! Schließlich gibt es doch längst nicht so viele Liriumstürme wie Pflanzen und Tiere ... und Isen ...«
Hel war schockiert. Dass man mit den Totenlichtern morden könnte, um Energie zu gewinnen, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. »Nein, das würde niemand tun«, erwiderte sie schließlich. »Das wäre ...«
»Das wäre krank«, murmelte Nova nachdenklich. »Mord für ... Lichter und, und beheizte Zimmer und schöne Dinge. Du meinst, das würde niemand tun? Aber es passiert doch schon längst. Der ganze Aufstand der Isen ist doch nur wegen Lirium ausgebrochen. All das nur für ... ich weiß nicht mal was. Den eigenen Schutz? Ein leichtes Leben? Um die Gewohnheiten beizubehalten, die einem so teuer erscheinen? Vielleicht wird uns nur eingeredet, dass Lirium unentbehrlich ist.«
Hel klemmte sich die Haare hinter das Band ihrer Augenklappe, damit der Wind sie nicht immer in ihr Gesicht wischte. »Willst du damit sagen, dass wir ohne Magie leben könnten? Denk mal darüber nach. Kein warmes Wasser. Kein sauberes Wasser. Keine Schwebeschiffe! Keine sicheren Straßen. Keine sicheren Ernten. Keine Musikdosen, keine Schaumseife, keine Leuchtkugeln ... keine Liga der Sturmjäger.«
Er winkte ab. »Ja, ja, ich weiß. Lass mich nur eine Weile so reden, als wäre ich kein Sturmjäger.« Er seufzte und legte den Kopf in die Hände. Dann fuhr er sich durchs Haar und verschränkte die Arme. »Wenn Magie nicht so kostbar wäre, weißt du ... das ist das ganze Problem.«
»Wenn Lirium nicht wertvoll wäre, dann wäre etwas anderes wertvoll. Leute würden immer um irgendwas streiten«, besänftigte Hel ihn leise und hatte diesen Gedanken zum ersten Mal, während sie ihn aussprach.
Nova sah sie müde an, ließ sie aber erkennen, dass er ihre Bemerkung schätzte.
Die Wolken verdunkelten den Himmel inzwischen so sehr, dass unten in der Stadt immer mehr Lichter aufglommen. Kühl wie gestrandete Sterne lagen sie im Grau des Vormittags. Hel hätte ihnen allen am liebsten befohlen auszugehen. Es kam ihr wie eine unnötige Verschwendung vor.
»Ich ...« Sie schluckte. Es war so schwer zu sagen, was sie sagen wollte, wenn die Worte sich nicht finden ließen. »Ich wünschte, ich wüsste, was richtig ist. Dann würde ich es tun. Aber ...« Sie atmete flach aus. Sie gab auf, sich ausdrücken zu wollen, und vertraute einfach darauf, dass Nova schon wusste, was in ihr vorging, und sie im Grunde dasselbe fühlten.
Eine Weile schwiegen sie, die Köpfe in die Hände gestützt, und betrachteten die Stadt, den großen See, der den Himmel widerspiegelte wie ein riesiges blankes Auge, die dunklen Hügel und Berge in der Ferne ... die Rauchsäulen, die sich blass am Horizont kringelten. Hel fragte sich, wie viele Kämpfe zwischen Isen und Menschen gerade stattfanden. Wie viele Dörfer und Städte gerade ›erobert‹ oder ›verloren‹ wurden. Und niemand schritt ein. Die Magierschaft schützte nur die großen Städte, die Sitze der Könige, die wichtigsten Achsen des Handels. Sie konnten nicht überall sein. Aber irgendjemand sollte es sein.
»Als du in der Wüste warst mit dem Dämon, hat er dir nichts angetan?«, fragte Nova irgendwann mit gepresster Stimme.
Hel war nicht überrascht über die Frage. Immerhin war der Gedanke naheliegend, und sie hatte sich selbst lange genug den Kopf darüber zerbrochen, warum manche Dinge passiert oder nicht passiert waren. »Nein. Er war ... ich wäre nie darauf gekommen, dass er am Absturz der Schwalbe schuld sein könnte. Selbst als die Hinweise sich gehäuft haben, konnte ich es noch nicht glauben.« Sie stieß ein knappes Lachen durch die Nase. »Wie konnte ich so blind sein ...«
Nova legte die Stirn in Falten. »Ja, ich frage mich, warum.«
»Hm?«, fragte Hel, denn er hatte so gemurmelt, dass sie ihn kaum verstanden hatte.
»Nichts.« Er blickte in die andere Richtung und blieb eine lange Zeit still. Dann sagte er: »Hier«, zog einen Zettel aus seinem Wams und gab ihn ihr, ohne sich zu ihr umzudrehen.