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Ein plötzliches Schluchzen stieg in ihr auf. Gharra! Und Jureba. Die Zwillinge. Zarip und Orriw, Perrin und auch Bassia. Die Menschen, die Räume und Decks, die ihr Zuhause waren. Ihr Leben. Das konnte doch nicht weg sein. Verschluckt vom Land, das ihr jetzt gegenüberlag, glupschäugig und nackt, übermächtig in seiner Gleichgültigkeit. Hel atmete schwer, obwohl sie längst nicht mehr außer Atem war. Der Augenblick erdrückte sie. Selbst wenn sie all die Verzweiflung hinausschrie, sie würde ungehört in der Taubheit des Landes ertrinken.

Sie grub die Fingernägel in ihre Handflächen, bis der Schmerz endlich Tränen in ihre Augen trieb. Und wieso war nur sie hier, im Nirgendwo? Jemand schuldete ihr Antworten, eine Erklärung ...

Plötzlich knirschte es. Hel fuhr herum und entdeckte ein Licht, das sich von den anderen Funken unterschied: Still harrte es am selben Fleck aus, viel kräftiger als das Leben ringsum. Es war ein Mensch. Vermutlich ihr Retter ... Sie rutschte tiefer in den Schatten des Felsens und tastete den Boden ab, ohne den Fremden aus den Augen zu lassen. Endlich fand sie einen spitzen Stein. Sie schloss ihre Faust um die dürftige Waffe. Wie lange stand er schon dort? Hatte er sie gesehen?

Mehrere Sekunden regte er sich nicht. Dann kam er auf sie zu. Seine Schritte waren lautlos. Vielleicht hatte er vorhin absichtlich ein Geräusch gemacht, damit sie ihn bemerkte. Hel schluckte und beschloss, kein Versteck zu spielen.

»Wer bist du?« Sie klang heiser. Entweder war sie sehr lange bewusstlos und stumm gewesen oder ihre Schreie lagen noch nicht lange zurück.

Die Gestalt wurde langsamer, kam aber weiter auf sie zu. Keine Antwort. Hel glitt einen Schritt zurück. Selbst wenn er sie gerettet hatte, sie kannte seine Absichten nicht.

»Gib dich zu erkennen.« Der Stein lag schwer in ihrer Faust.

Plötzlich kniete der Unbekannte nieder. Als er sich wieder aufrichtete, wurde es hell.

Hel schnappte nach Luft: Der Fremde blies eine Wolke aus feinem Sand aus der Handfläche und schien ihr allein durch seinen Atem Licht und Schwerelosigkeit zu verleihen. Als der Sand einem winzigen Firmament gleich über ihnen glomm, senkte er die Hand.

Hel rang um Fassung. Wie hatte er das gemacht? Er hatte doch einfach den Staub vom Boden aufgehoben. Oder war es doch verzaubertes Pulver? Sie starrte ihn an, aber er war in einen langen Umhang gehüllt, eine Kapuze verschluckte das Gesicht.

»Wo sind wir und wo sind die anderen?«

Er schien ihrer Frage nachzulauschen, als sei er nicht sicher, ob sie tatsächlich an andere glaubte. »Wir sind allein.«

Die Stimme schmiegte sich kalt an sie. Schwindel erweichte ihre Glieder und sie klammerte sich fester an den Fels. »Wo ist das Schiff?«, stammelte sie.

Der Fremde trat näher. Sandkörner rieselten jetzt aus der Luft und erloschen eins ums andere. »Viele Tagesreisen entfernt.«

»Sag endlich, wer du bist.«

Nicht viel lauter erwiderte er: »Ein Händler.«

Die Sandkörner verglommen ganz. Hel hörte, wie sie in die Dunkelheit fielen. Gleichzeitig begriff sie und vor Entsetzen sackten ihre Knie ein.

Ein Händler. Er war ein Menschenhändler.

»Bleib zurück«, befahl sie schrill und hob den Stein, doch mit der zweiten Sicht sah sie ihn näher kommen. Sie stolperte und verlor das Gleichgewicht. Er fing sie auf. Vor Schmerz ließ sie den Stein fallen. Wenn ihre Rippen nicht gebrochen waren, brachen sie in diesem Moment. Benommenheit umwölkte sie. Im nächsten Moment trug der Fremde sie in den Armen. Sie strampelte schwach, doch vergebens.

Der Menschenhändler brachte sie zurück in die Höhle. Dort, wo sie vorhin aufgewacht war, setzte er sie ab, ließ sich einen Ellbogenstoß und ein paar klägliche Schläge gefallen und zog sich unbeeindruckt zurück. Hel hörte ihn herumhantieren. Dann flammte eine Leuchtkugel auf. Die Höhle füllte sich mit Helligkeit.

Allerdings schwebte die Leuchtkugel nicht. Bei genauerem Hinsehen erkannte Hel auch, wieso: Es war gar keine Leuchtkugel, sondern ein Felssplitter! Ohne dem Wunder irgendwelche Beachtung zu schenken, legte der Fremde den leuchtenden Stein zu Boden. Dann trat er vor Hel, die mit letzter Kraft zurückkroch. Ihr Kopf wollte platzen. Sie musste trinken, einen ganzen See austrinken, und dann ohnmächtig werden ...

Der Händler hielt ihr ein Kleidungsstück hin. Hel erkannte die dunkelblaue Jacke, der die Ärmel und Knöpfe fehlten: Die Weste gehörte Arus, einem Sturmjäger der Schwalbe. Hatte Arus sie am letzten Tag getragen? War er irgendwo in der Nähe? Oder war er in dieser Weste gestorben ...? Sie biss sich auf die Unterlippe.

»Hast du Schmerzen?«, fragte der Mann. Als Hel keine Antwort gab, drehte er sich um und holte einen ledernen Wasserschlauch zwischen den Felsen hervor. Er ging vor ihr in die Knie und wollte die Weste über sie legen und ihr zu trinken geben, doch Hel wehrte ihn ab.

Verdutzt hielt er inne. Dann legte er Wasserschlauch und Weste zu Boden und verschränkte die Arme auf dem Knie. Er wartete.

Hel aber konnte nicht mehr warten. Mit klammen Fingern schnappte sie sich den Schlauch, riss den Verschluss auf und trank. Wasser rann ihr aus den Mundwinkeln. Sie schluckte und schluckte, ungeachtet des Stechens in ihren Rippen. Schließlich senkte sie hustend den Schlauch und wischte sich über die Lippen. Fahrig griff sie nach der Weste und drückte sie vor sich. Dabei machte es jetzt auch keinen Unterschied mehr, wie der Fremde sie sah. Wahrscheinlich hatte er sowieso noch viel mehr gesehen, als er sie verbunden hatte ... Hel spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Viel, viel schlimmer aber war, dass ihr Auge entblößt war. Sie hielt den Kopf ein wenig schräg, sodass ihre linke Gesichtshälfte im Schatten lag.

»Hast du Hunger?«, fragte er, zog ein Bündel hervor und entfaltete das Tuch. In dunkelgrüne Blätter gewickelte Speisen kamen zum Vorschein, die die Form und Größe von Teigklößen hatten. Er schob ihr das Essen hin.

Hel fühlte sich hungrig, aber zum Kauen war sie zu schwach. Misstrauisch beäugte sie den Händler. Bestimmt hatte er irgendwo Komplizen. Vielleicht gab es auch noch mehr Sklaven, die er in der Nähe untergebracht hatte. Menschenräuber verschleppten ihre Opfer aus allen Teilen der bekannten Welt. Es gab Geschichten über Sklavenschiffe, die aus der Goldbucht am Rand der Wüste segelten und nie wiederkamen. Geschichten von Opfergaben an das Meer ... Hel zitterte. Sie konnte sich nichts vormachen. Alle Menschen, die nach ihr gesucht hätten, waren wahrscheinlich tot. Und sie war verletzt. Selbst wenn ihr irgendwie eine Flucht gelang, würde sie nicht weit kommen. Sie wusste ja nicht einmal, wo sie überhaupt war.

»Du wirst schon Hunger bekommen.« Er ließ das Bündel offen zwischen ihnen liegen. Nach einer Weile fragte er: »Was ist mit deinem Auge?«

Sie zuckte zusammen und wäre am liebsten unsichtbar geworden. Doch dann begriff Hel, dass gerade ihre größte Schwäche sie jetzt retten konnte – und erwiderte zögernd: »Ich bin entstellt. Niemand wird mich kaufen. Ich bin auch nicht geeignet für Arbeit, nicht mal viel Trollfutter ist an mir dran.«

»Warum sollte dich jemand kaufen?«

Hel nickte verwirrt. »Eben.«

Er sah sie schweigend an. Dann knöpfte er die seitlichen Verschlüsse seines Umhangs auf. »Schlaf ein wenig. Wenn du aufwachst, wird das Fieber schwächer sein.«

Ehe Hel es verhindern konnte, breitete er den Umhang über ihr aus. Sie starrte den Fremden an, der unter der Kapuze zum Vorschein kam. Er war kein Mann. Er war ein Junge.

Er konnte nicht viel mehr Jahre zählen als sie. Das Licht verriet eine knochige Nase, einen ernsten Mund und Augen, von dichten Wimpern und Schatten verdunkelt. Über ihrer Eindringlichkeit konnte man fast vergessen, wie schön diese Augen auch waren. Hel fühlte sich benommen. Sie erkannte ihn aus Träumen oder dem Halbschlaf vergangener Tage wieder, und plötzlich schien er ihr vertraut ... Hätte sie die Kraft gehabt, sie hätte sich geohrfeigt, um wieder zur Besinnung zu kommen.