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»Was ist das?«

»Von Aricaa. Lies es.«

Hel hatte eigentlich keine besondere Lust, aber sie faltete das Papier trotzdem auseinander. Zu ihrer Überraschung offenbarte sich kein langer, wütender Brief. Nur zwei hastig gekritzelte Sätze:

Mein einziger Makel ist, dass ich dich mag. Darüber kommst du nicht hinweg.

Hel las es mehrmals durch. Schließlich runzelte sie die Stirn. »Aricaa ist sehr viel klüger, als ich dachte. Sie hat dich durchschaut, Nova.«

Er traute sich noch immer nicht, ihr sein Gesicht zu zeigen, und nickte nur. Hel ließ ihm Zeit. Schließlich sagte er fast hilflos: »Vielleicht mag ich sie doch. Aber ... ich will sie nicht sehen!«

Hel brummte verstehend. »Natürlich magst du sie. Sie ist hübsch und klug und eine Magierin. Aber du bist nicht in sie verliebt. Sie zu sehen, würde bedeuten, deinen eigenen Lügen gegenüberzutreten.«

»Ich weiß einfach nicht, wieso, aber sobald ein Mädchen mich liebt ...«

»Liebst du sie nicht mehr.«

Endlich drehte er sich zu ihr um. »Ja! Oh, es klingt so furchtbar, wenn du es sagst.«

»Es ist auch furchtbar, Nova.« Sie sah ihm in die Augen.

Er hob die Hände und machte nervöse, unverständliche Zeichen mit den Fingern. »Verstehst du ... stell dir vor ... wie köstlich aussehende, gezuckerte Beeren ... und dann will ich sie unbedingt haben. Aber wenn ich sie dann habe, schmecken sie nicht so gut, wie ich dachte. Sie halten nie, was sie versprechen, Hel! Und ich will nicht mehr in faule Beeren beißen.«

»Vielleicht sind nicht die Beeren faul. Vielleicht ist das einfach, wie Beeren schmecken.«

»Meinst du?« Er seufzte. »Aber dann gibt es keine Liebe. Dann ist alles, was die Dichter je geschrieben haben, erstunken und erlogen. Das ist schrecklich. Nein, ich weigere mich zu glauben, dass das alles ist. Irgendwann finde ich eine, die mich nicht enttäuscht!«

Hel hätte ihm gerne auf die Schulter geklopft, aber an seiner Stelle wäre ihr das unangenehm gewesen, also ließ sie es bleiben. »Du suchst irgendwas. Aber du wirst es nicht in einem anderen Menschen finden. Und wenn es das wundervollste Mädchen der Welt wäre.«

Er zögerte eine Weile, schien mehrere Dinge sagen und nicht sagen zu wollen. Zuletzt senkte er den Kopf und nuschelte: »Kannst du mich jetzt ein bisschen bemitleiden, bitte?«

Hel lächelte und klopfte ihm auf die Schulter.

Als er sich wieder aufrichtete, grinste er ein wenig. »Danke für die Bärenpranke. Dafür, dass du so kleine Hände hast, ist dein Mitgefühl ganz schön kräftig.«

»Sei nicht weinerlich.«

Sie grinsten sich an, und Hel musste daran denken, dass er vor nicht allzu langer Zeit ein Fremder gewesen war. Mehr noch als ein Fremder – jemand, der sie verunsichert hatte, dessen bloße Vorstellung ein Stachel in ihrem Bauch gewesen war. Und nun vertraute sie ausgerechnet ihm am meisten, in dem sie am wenigsten ein gutes Herz vermutet hätte. Doch er hatte ein gutes Herz. Seine kleinen Schwächen an der Oberfläche waren nur das Gegengewicht zu seinen großen Stärken in der Tiefe. Hel war froh, ihn als Freund zu haben und ihm ein Freund sein zu können und dass sie die Wahrheit über ihn kannte. Auf einmal war sie voller Dankbarkeit. Sie legte die Hände auf die kühle Steinbrüstung und atmete tief ein. Der Wind zog die Haare hinter ihren Ohren vor und blies sie ihr stürmisch über das Gesicht. Fast hatte sie das Gefühl, wieder im Mastkorb der Schwalbe zu stehen, weit oben im Himmel, weit in einer Vergangenheit, die vielleicht gar nicht so verloren war, wie sie gedacht hatte.

Egal was noch auf sie zukam, und sei es das Ende der Welt. In diesem Moment, auf der Brücke, war alles in Ordnung. Und solange sie Nova an ihrer Seite hatte, und auch Kelda und Harlem und die anderen, würde der Moment andauern.

Epilog

Drei Druiden lebten noch und sie waren Todfeinde mit demselben Traum.

Die Winde peitschten Wolken auf und jagten flach und glatt wie Schlangen über das Meer.

Das Meer öffnete tiefe Mäuler, schlug seine Schaumzähne in das Land. Das Land erhob sich. Das Land krümmte seine Rücken und ließ Wirbel knacken. Von grünendem und krabbelndem Leben befallene Hügel brachen auf, Berge platzten wie Pestbeulen, und hervor quoll, was unter allem war, im Inneren: das Tiefe Licht. Es strahlte heller als tausend Sonnen. Es leuchtete in die Herzen der Menschen, offenbarte ihre Schuld und nahm ihnen das Leben, um es der Erde zurückzugeben.

Denn sie war zornig, die Erde, und schwach. Die Abtrünnigen nährten sich seit Jahrhunderten von ihrer Kraft. Mit tückischer Sorgfalt ernteten sie jede Perle ihres süßen Schweißes ab. Das Tiefe Licht konnte sie vernichten, doch es musste erst gerufen werden. Jemand musste es rufen.

ER, der sich das Totenlicht aus Har’punaptra angeeignet hatte, flog wie ein Schatten durch das sterbende Land. Jeder Schritt brachte IHN dem Tag näher, an dem das Tiefe Licht Vergeltung übte. ER würde der Gerechtigkeit die Tore öffnen, auf dass sie einer Lichtflut gleich auf die Menschen niederstürzen, die Schuldigen vernichten und die Demütigen mit strahlendem Leben erfüllen mochte. Er sehnte die vollkommene Reinigung herbei, die alles Schlechte aus der Welt spülte. Dieser Traum hatte auch in seinen Geschwistern Wurzeln geschlagen, sorgsam eingepflanzt von den Druiden, die vor ihnen gewesen waren. Die Brüder und Schwestern teilten zwar ein gemeinsames Ziel, doch mussten sie einander dafür töten. Nur einer konnte alle Totenlichter in sich einen, um das Tiefe Licht aus dem Kern der Erde heraufzubeschwören.

Die Jüngste war schon gestorben. Totumé hatte dreizehn Sommer gezählt, als sie aufgebrochen war, um die Totenlichter zu finden. Aber der Wille war allzu oft ein Flämmchen, das beim geringsten Windzug erlosch. Dem stürmischen Sog der Macht war die Druidin nicht gewachsen.

ER war vorsichtiger. Wie der Stern, nach dem ER benannt war, glomm sein Totenlicht nur in manchen Nächten auf. ER ließ es in sich schlafen, bewegte sich unsichtbar auf der Suche nach den anderen Totenlichtern. Seine Gedanken hielt ER in schwarzen Kammern verschlossen, um nicht Totumés Fehler zu begehen. Es war so leicht gewesen, in den Geist seiner Schwester einzudringen, dass ER sie sogar in der tiefen Wildnis gefunden hatte. Aber auch ohne ihre Verbindung durch die Totenlichter hätte man nur der Spur zerstörter Dörfer und Schwebeschiffe folgen müssen, die sie für alle sichtbar hinterlassen hatte.

Trotzdem war es IHM nicht gelungen, ihr Totenlicht an sich zu nehmen. Nicht seine Geschwister hatten es vereitelt – ein Fremder war dazwischengekommen. Das dunkle Herz schlug nun in einem Abtrünnigen, der nichts ahnte. Er musste gefunden und vernichtet werden.

Bei Tagesanbruch machte ER Rast. Gebirge lagen vor IHM, in denen kaum Leben funkelte. Das Land war so ausgebeutet, dass es sich nicht mehr bewegen konnte. Wie ein gemaltes Wandbild, dachte ER, und spürte die vertraute, warme Wut in sich.

Dann lauschte ER nach den anderen Herzen. Die wirren Gedanken des Isen flogen IHM zu wie bunte Blütenblätter. Doch sonst Stille. Anetán, sein Bruder, und seine Schwester Saraide schienen bis jetzt erfolglos zu sein. Er war erleichtert. Dann gab es keinen Grund, zu kämpfen.

Und doch ... ungestört war die Stille nicht. Immer wieder, ganz flüchtig, tänzelte ihr Name IHM durch den Kopf, wob einen veilchenblauen Dunst um seine Sinne. ER konnte sie nicht vergessen. ER glaubte, ihre Stimme zu hören, und badete in Erinnerungen. Seufzend begann ER das Morgengebet.

Ihr Gesicht stieg in IHM auf. Sie hatte ein Lichtauge, in dem sich seine Seele spiegelte, und ein Menschenauge, das IHN als Mann sah. Die Gedanken an sie waren unkontrollierbar. Manchmal glaubte ER zu spüren, dass auch sie an IHN dachte. Aber das war unmöglich. Nur die Macht des Tiefen Lichts konnte zwei miteinander verbinden, und das Mädchen gehörte zu den Abtrünnigen. Auch sie würde bestraft, wenn es so weit war. Wenn ER alle vier Totenlichter fand. Wenn ER die anderen Druiden besiegte, triumphierte, seine Aufgabe erfüllte.