»Was ist das hier, Karan?« stöhnte sie. Selbst diese wenigen Worte bereiteten ihr Mühe. »Was bedeutet das alles! Ich will jetzt endlich eine Antwort!«
»Später.« Karan versuchte ihre Hand abzustreifen, aber seine Kraft reichte nicht. »Karan wird euch alles erklären, aber nicht - « Er stockte. Seine Augen wurden rund vor Entsetzen, während sein Blick an Tally vorbei in die Tiefe fiel.
Tally schrie auf, als sie sich herumdrehte.
Nur wenige Schritte neben dem Baumstamm ragte eine Anzahl der fahlen Riesenpilze aus dem Boden, und zwischen ihnen, bis zur Taille im schwarzen Morast versunken und mit schmerzverzerrtem Gesicht, stand...
»Weller!«
Angellas Schrei und Tallys Bewegung waren eines.
Von einer Sekunde auf die andere waren alle Furcht und Erschöpfung vergessen. Nur noch mit einem winzigen Teil ihres Bewußtseins registrierte sie, wie Karan ebenfalls aufschrie und sie festzuhalten versuchte, dann war sie herum und sprang blindlings in die Tiefe.
Der weiche Morast dämpfte ihren Sturz. Sie fiel, kam, von ihrem eigenen Schwung nach vorne gerissen, wieder auf die Füße und taumelte auf Weller zu. Über ihr begann Karan schrill und wie unter Folterqualen zu schreien; sie verstand die Worte nicht, und hätte sie sie verstanden, sie hätte nicht darauf reagieren können.
Ein winziger Teil ihres logischen Denkens funktionierte noch - ein Teil, der ihr zuflüsterte, daß das, was sie zu sehen glaubte, vollkommen unmöglich war - sie waren Meilen von der Absturzstelle entfernt. Weller konnte den Sturz nicht überlebt haben, und wenn doch, so war es unmöglich, ihn hier wiederzusehen.
Aber sie stolperte blindlings weiter, unfähig, auf Karans Schreie und die drängende Stimme in ihrem Innern zu hören. Für einen Moment verlor sie Weller aus dem Blick und sah nur noch die gewaltigen bleichen Pilze. Der Boden dazwischen kochte. Etwas Schlankes, Massiges wie eine faulende weiße Schlange bewegte sich darin, ein faustgroßes blindes Auge starrte sie an.
Dann sah sie Weller wieder. Er war etwas weiter in den Boden eingesunken, sein Gesicht verzerrt vor namenlo-sem Grauen. Und er schrie: hohe, entsetzliche Töne, wie sie eine menschliche Kehle kaum hervorbringen konnte und die sie doch verstand.
Er schrie ihren Namen. »Tally!« brüllte er. »Um Gottes Willen, hilf mir! so hilf mir doch!«
Und dann sah sie, was es wirklich war.
Es war Weller - oder wenigstens etwas, das wie Weller aussah, eine Weller-Kopie aus weichem Brei, perfekt bis zur Brust und den Ellbogen hinab, darunter aus der Form geraten, zerlaufend, fließend... Seine Hände waren bereits verschwunden, die Unterarme lösten sich auf wie Wachs, das in der Sonnenglut schmolz und in zähen Fäden zu Boden tropfte, dann begann sich seine Brust aufzulösen. Hals und Schultern sanken ein, und mit einem Mal begann sein Gesicht Blasen zu schlagen.
Augen und Nase verschwanden, krochen auf entsetzliche Weise in die flacher werdende Stirn zurück, nur noch der Mund war da, ein zerfranstes, aufgerissenes Loch, aus dem diese schreckliche Stimme noch immer ihren Namen brüllte: »Hilf mir! Tally, so hilf mir doch!!!!«
Tally stand noch immer da und schrie, als Hrhon und Angella neben ihr anlangten. In blinder Panik schlug sie um sich, hörte Angella stürzen und fühlte sich plötzlich von Hrhons übermenschlich starken Händen gepackt.
Wie von Sinnen trat sie zu, hämmerte mit den Fäusten auf Hrhons Schädel ein und versuchte sogar an ihre Waffe zu kommen.
Angella entwand ihr den Laser, holte aus und versetzte ihr einen Schlag mit der flachen Hand, der sie halb besinnungslos in sich zusammensinken ließ. Aber sie schrie immer noch weiter, bäumte sich mit aller Kraft gegen Hrhons Griff auf, versuchte ihm die Augen auszu-kratzen und trat nach Angella.
Wie in einer entsetzlichen Vision, auf die sie selbst keinen Einfluß hatte, hörte sie sich schreien, ununterbrochen Wellers Namen rufend, und als Antwort noch immer das hohe, schrille Kreischen des Weller-Dinges, Laute, die nichts mehr mit einer menschlichen Stimme gemein hatten und die doch ihren Namen brüllten, erfüllt von einer Furcht, die die Grenzen des Vorstellbaren sprengte.
Dann brach ein peitschendes weißes Etwas aus dem Sumpf, unmittelbar neben Hrhon. Schwarzer Morast besudelte sie; ein nur kleinfingerstarker, aber ungemein kräftiger Strang wickelte sich wie eine Peitschenschnur um Hrhons Körper. Der Waga brüllte vor Zorn und Schmerz und versuchte ihn zu zerreißen, aber selbst seine ungeheuerlichen Kräfte versagten. Neben ihr schrie Angella wie unter Schmerzen auf, hob den Laser und versuchte vergeblich, die Waffe einzuschalten.
Auch zwischen ihren Füßen zerbarst der Sumpf. Ein ganzes Gespinst weißer, glitzernder Fäden schoß in die Höhe, wickelte sich um Angellas Arme, ihre Schultern, .
und ihren Körper, legte sich wie ein klebriges Gespinst über ihr Gesicht und erstickte ihre Schreie. Tally spürte, wie sich Hrhon noch einmal aufbäumte und mit aller Gewalt an dem entsetzlichen Geflecht zerrte, das ihn in die Tiefe reißen wollte.
Und plötzlich war Karan da. Blindlings und ohne auf die Gefahr zu achten, in die er sich selbst begab, sprang er zu ihnen herab, warf sich mit einem Schrei auf Angella und begann das erstickende Wurzelgeflecht von ihrem Gesicht herunterzuzerren.
Was Hrhon mit seinen übermenschlichen Kräften nicht geschafft hatte - ihm gelang es. Die weißen Fäden zerrissen wie Spinnweben. Plötzlich war Angellas Gesicht wieder frei; sie konnte atmen. Karan zerrte und riß weiter, befreite auch ihre Schultern und Arme und hielt plötzlich den Laser in der Hand.
Ein dünner, unerträglich gleißender Blitz fuhr aus der Waffe und brannte ein rauchendes Loch in den Boden, nur wenige Handbreit vor Angellas Füßen.
Tally glaubte das qualvolle Zusammenziehen des unglaublichen Wesens wie einen eigenen Schmerz zu fühlen. Mit einem Male waren sie frei. Die dünnen Stränge, die Hrhon und sie gepackt und in den Boden hinabzuziehen versucht hatten, fielen kraftlos herab.
Hrhon stieß einen erleichterten Schrei aus und stürmte los, während Karan hinter ihnen herumfuhr und Angella in die Höhe riß, mit einer Kraft, die er einfach nicht haben konnte.
Sie erreichten den Baumstamm. Hrhon warf sie wie eine leblose Last auf das morsche Holz hinauf, fuhr noch einmal herum und streckte die Pranken aus, um Karan und Angella zu helfen.
Aber Tally registrierte all dies nur mit einem winzigen Teil ihres Bewußtseins. Sie war fast besinnungslos, und fast wahnsinnig vor Angst - und sie hörte noch immer Wellers entsetzliche Schreie.
Die Alptraumgestalt war längst verschwunden, eins geworden mit dem gigantischen protoplasmischen Ungeheuer, das sich unter dem schwarzen Sumpf des Bodens verbarg, aber Tally sah sie noch immer. Wohin sie auch blickte, glaubte sie das fürchterliche, zerlau-fende Gesicht zu erkennen, den hilflos aufgerissenen Mund, aus dem gellende Hilfeschreie drangen. Sie war nicht mehr Herrin ihres Willens. Während Hrhon sich abmühte, Karan und Angella auf die rettende Insel hin-aufzuzerren, stemmte sie sich hoch, kroch auf Händen und Knien zurück, zurück zum Sumpf, zu Weller, den sie retten mußte, der ein Recht darauf hatte, gerettet zu werden, von ihr gerettet zu werden, denn sie war es gewesen, die ihn hierhergebracht hatte, die...