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»Das also war es«, murmelte sie.

Karan nickte. Er stand auf. Sein Arm, der vor Tallys Augen zu schwarzer Schlacke geworden war, hob sich, unversehrt, glatt neugeboren. Nein - neugeschaffen, verbesserte sie sich in Gedanken. Was für eine Närrin war sie doch gewesen, es nicht schon vorher zu merken.

»Was... was bedeutete das?« stammelte Angella.

Ihre Stimme war schrill. Zitterte. Tally hörte den Ton beginnender Hysterie darin. »Was bedeutet das, Tally?«

kreischte sie.

»Schweig«, sagte Karan sanft. »Deine Angst ist verständlich, aber unbegründet. Karan ist nicht euer Feind.

Er wird euch hier herausbringen, wie er es versprochen hat.« Er stockte einen fast unmerklichen Moment. »Er wird euch einen Weg zeigen, auf dem ihr aus dem Wald herauskommt. Aber zuvor wird er deine Frage beantworten, Tally.« Er seufzte. Als er weitersprach, klang seine Stimme verändert. Flach und tonlos wie die eines Mannes, der in Trance sprach.

»Das dort unten ist der Schlund, Tally«, sagte er. Seine Hand wies nach unten, auf das unsichtbare, schlingende Etwas unter dem Netz. Zum ersten Male glaubte Tally zu begreifen, wie wahr der Name war, den die Menschen der Welt unter der Welt gegeben hatten. »Das Leben.«

»Leben?« Angella ächzte. »Ich hatte einen eher gegen-teiligen Eindruck, Karan.«

»Es ist das Leben«, beharrte Karan. »Leben in seiner reinsten, ursprünglichsten Form.« Er wandte sich wieder an Tally. »Karan hat dir einmal die Geschichte den Schlundes erzählt, Tally, den kleinen Teil davon, den er selber kennt, und der weiterzugeben ihm erlaubt ist.

Dies alles hier war einmal ein Meer, ein Ozean, der den größten Teil dieser Welt umspannte. Alles Leben begann in ihm, und hier wird noch Leben sein, wenn der Rest dieses Planeten längst zu einer toten Staubkugel geworden ist. Es war immer hier, es ist hier, und es wird immer hier sein. Es ist die große Mutter, Gäa, der Ursprung allen Lebens.«

»Die große Mutter?« Angella lachte bitter. »Eine ziemlich rabiate Mutter, findest du nicht?« Ihre Stimme schwankte immer stärker. Tally begriff, daß sie kurz davor war, schlichtweg den Verstand zu verlieren.

»Du verstehst noch immer nicht«, antwortete Karan.

»Der Schlund ist kein Wesen wie du oder Tally oder selbst der Waga hier. Er denkt nicht. Er fühlt nicht. Er lebt. Das ist alles.«

»Und deshalb tötet er?«

»Der Sinn des Lebens ist das Leben, sonst nichts«, erwiderte Karan beinahe sanft. »Dinge wie gut und böse sind Erfindungen der Menschen. Der Schlund kennt diese Gefühle nicht. Sie hindern nur und nutzen nicht.

Der Schlund ist Leben, in absoluter Perfektion. Nichts kann ihn vernichten. Er kennt keine Schmerzen. Keine Skrupel. Kein Gewissen.«

»Dann ist er nicht mehr als ein Plasmaklumpen«, sagte Angella. Sie wimmerte leise. Tally blickte rasch zu ihr zurück und sah, daß ihr Gesicht noch immer verzerrt war. Ihr Blick flackerte. Sie sprach, ohne wirklich zu wissen, was sie sagte. Ihre Hände vollführten kleine, eigenständige Bewegungen. »Nicht mehr als ein Ding, das frißt und sich fortpflanzt.«

»Und damit den Sinn des Lebens erfüllt«, beharrte Karan. Er lächelte milde. »Du verstehst nicht, Angella

- und wie könntest du auch? Niemand, der den Schlund nicht so kennengelernt hat wie Karan, kann begreifen, was er ist.«

»Du weißt es«, sagte Tally. Plötzlich war ihr kalt.

Entsetzlich kalt. Sie trat dicht an Karan heran und versuchte zu lächeln, aber der bloße Gedanke an das, dem sie wirklich gegenüberstand, ließ es zu einer Grimasse werden. »Deshalb also hattest du solche Angst davor, hierher zurückzukehren«, fuhr sie fort.

Karan nickte. »Ja. Aber diese Angst war falsch, das weiß Karan jetzt. Er hätte schon viel früher zurückkehren sollen. Er dankt dir, daß du ihn gezwungen hast, es zu tun.«

»Was zum Teufel redet ihr da?« fragte Angella. Sie sah abwechselnd Tally und Karan an. »Was soll dieser Unsinn bedeuten?«

»Es ist kein Unsinn.« Tally antwortete, ohne den Blick von Karans Gesicht zu nehmen. In den Augen des alten Mannes stand ein Ausdruck, der sie schaudern ließ. Es war Schmerz, Furcht, sicher, aber auch... ja - aber auch Glück. Glück und Erleichterung. »Du hast gefragt, wie es kommt, daß wir von keinem Bewohner dieses Waldes angegriffen worden sind, Angella«, fuhr sie fort, aber noch immer, ohne sie anzusehen. »Du hast vermutet, daß es Karan ist, der uns schützt, nicht wahr? Aber wir wußten nicht, wie er es getan hat.«

»Und du weißt es jetzt?« Angella klang unsicher.

Tally nickte. »Ja. Sie fürchten ihn, weil sie den Schlund fürchten, nicht wahr, Karan? Und weil er ein Teil davon ist.«

Ganz langsam zog sie ihr Messer aus dem Gürtel, setzte die Spitze auf Karans Unterarm und sah ihn fragend an.

Karan nickte.

»Was tust du?« rief Angella erschrocken.

Aber Tally antwortete nicht. Statt dessen führte sie die Messerklinge in einem raschen, aufwärts gerichteten Bogen über Karans Arm. Seine Haut klaffte auseinander.

Karan zuckte nicht einmal mit den Wimpern.

Die Wunde blutete nicht.

Und darunter kam keinlebendes Fleisch zum Vorschein, sondern eine weißliche, glänzende Masse aus Millionen und Abermillionen mikroskopisch feiner, ineinanderge-sponnener Fäden, menschliche Knochen und Venen und Muskeln nachahmend.

Angella keuchte. Ihre Augen weiten sich entsetzt.

»Was...«, stammelte sie.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Karan milde.

»Karan ist nicht euer Feind.«

»Und du?« fragte Tally.

»Ich bin ein Teil von ihm«, erwiderte Karan. »So wie Karan ein Teil von mir ist. Er wird zurückkehren, jetzt, wo er den Ruf der Urmutter vernommen hat, aber noch bleibt ihm ein wenig Zeit. Und er wird euch hier herausbringen, zum Dank, daß ihr ihm geholfen habt, dorthin zurückzukehren, wo er hingehört.«

»Du... du willst doch nicht etwa diesem Ungeheuer trauen?« keuchte Angella. »Hast du vergessen, was es mit den Hornköpfen gemacht hat? Hast du... hast du Weller schon vergessen?«

»Auch Weller ist Teil des Schlundes geworden«, antwortete Karan an Tallys Stelle. »Dein Mitgefühl ist verständlich, Angella, doch unbegründet. Er ist glücklich, dort, wo er jetzt ist.« Er zögerte. Dann: »Auch ihr solltet Karan folgen. Ihr wäret aller Schmerzen und Sorgen ledig.« Er lächelte, schüttelte den Kopf und beantwortete seine Frage selbst. »Aber ihr werdet es nicht tun. Auch Karan hätte es nicht getan, bevor ihr ihm die Augen geöffnet habt. Der Teil von euch, der Mensch ist, ist noch zu stark in euch.«

»Aber Weller hat... hat mich gerufen!« sagte Tally verstört. »Er hat um Hilfe geschrien, Karan. Er leidet!«

Karan lächelte. Die Wunde auf seinem Arm begann sich zu schließen. »Nur ein Teil von ihm. Schmerz und Leid sind Bestandteile des menschlichen Lebens, Tally.

Sie werden vergehen, wie sein Körper verging. Er wird glücklich sein.«