Lyss nickte. »Sicher.«
»Diese Ancen-Leute, von denen ihr gesprochen habt«, sagte Tally zögernd. »Wer sind sie? Ich habe noch nie von einem Volk dieses Namens gehört.«
»Eine Sippe wie die deine«, antwortete Lyss bereit-willig.
»Gibt es denn mehr?«
Lyss lachte leise, aber jetzt klang der Spott darin fast gutmütig. »Natürlich«, sagte sie. »Hast du wirklich gedacht, eure Sippe wäre die einzige?« Sie machte eine Bewegung, die den ganzen Turm einschloß. »Dies alles hier wäre wohl etwas zu aufwendig, um einem Narren wie Hraban ein wenig Hokuspokus vorzumachen, nicht wahr? Und die Welt ist ein bißchen zu groß, um von einer dreihundert Köpfe zählenden Horde aus Gesindel und Mördern beherrscht zu werden. Aber das wirst du alles noch genauer erfahren, wenn sich herausstellen sollte, daß du die Wahrheit sagst.«
»Dann werdet Ihr mich nicht töten?«
»Wenn du gelogen hast, ja«, antwortete Lyss. »Sonst nicht. Aber du kannst auch nicht zurück zu deiner Sippe, das wirst du einsehen. Nicht nach allem, was du hier gesehen hast. Ich denke, wir nehmen dich einfach mit.«
»Mit zu... euch?« keuchte Tally. »Mit dorthin, wo ihr herkommt, Ihr und die anderen'?«
Lyss nickte. In ihren Augen stand ein amüsiertes Funkeln. »Warum nicht? Es wäre unsinnig, dich zu töten, wenn deine Geschichte der Wahrheit entspricht. Aber du kannst auch nicht zurück zu deinen Leuten, das wirst du verstehen. Es wird dir gefallen, Tally. Bei uns als Sklavin zu dienen ist immer noch tausendmal besser als die Königin dieser Barbaren zu sein.«
Tallys Blick richtete sich sehnsüchtig auf den schmalen Balkon hinter Lyss. Wenn sie doch nur eine Möglichkeit hätte, Hrhon und Essk zu Hilfe zu rufen. Zusammen
- und mit dem Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite
- hätten sie vielleicht sogar eine Chance, Vakk zu besiegen, den gigantischen Hornkopf.
Sie stand auf, machte einen Schritt in Lyss' Richtung und deutete schüchtern auf den Balkon. »Die Drachen, Herrin«, sagte sie. »Kann ich sie sehen?«
»Das wirst du früh genug, wenn sich deine Geschichte als wahr erweisen sollte«, antwortete Lyss grob. Ihre Augen wurden schmal. »Woher weißt du überhaupt, daß sie dort unten sind?«
»Ich war lange hier, Gebieterin«, antwortete Tally. »Ich habe mich umgesehen. Der Turm steht über einer Höhle, nicht war?«
Lyss nickte widerwillig. »Du bist eine gute Beobachterin, Tally«, sagte sie. »Ich denke, du kannst uns von Nutzen sein - falls wir dich mitnehmen sollten. Hast du schon einmal einen Drachen gesehen? Aus der Nähe, meine ich.«
Tally verneinte. »Aber ich würde es gerne«, sagte sie.
Ehe Lyss es verhindern konnte, trat sie an ihr und der Ameise vorbei auf den schmalen Balkon hinaus, legte die Hände auf die Brüstung und beugte sich vor, so weit sie konnte. Etwas Dunkles, grünbraun Geschupptes glitzerte unter ihr und verschwand mit einer hastigen Bewegung. »Wenn Maya ihr Tier heraufholt, müßte man es sehen können.«
»Komm da weg!« befahl Lyss scharf, aber Tally tat so, als hätte sie ihren Befehl gar nicht gehört, und spielte weiter die Aufgeregte. Statt zu gehorchen, beugte sie sich noch weiter vor, so daß sie nur noch auf den Zehenspitzen stand und gerade noch die Balance halten konnte.
»Bitte, Herrin«, sagte sie. »Nur ein einziger Blick! Seit ich ein Kind bin, wünsche ich mir, einen Drachen aus der Nähe zu sehen!«
Ein flaches Gesicht erschien unter ihr; schmale glitzernde Reptilienaugen blickten fragend zu ihr herauf.
Tally zog eine Grimasse, versuchte Essk mit den Augen einen Wink zu geben und ging sogar das Risiko ein, für einen Moment die linke Hand von ihrem Halt zu lösen und sich mit Zeige- und Mittelfinger bezeichnend über die Kehle zu fahren. Sie beendete die Bewegung damit, daß sie die Hand zur Stirn hob und sich das Haar aus dem Gesicht strich, mit dem der Wind spielte.
Sie konnte nicht erkennen, ob der Waga ihre Geste verstanden hatte, denn sein Gesicht verschmolz wieder mit den Schatten, und eine Sekunde später war Lyss bei ihr und riß sie grob an der Schulter zurück. Tally stolperte ein Stückweit rücklings, griff haltsuchend um sich und bekam einen Zipfel der schweren Samtgardine zu fassen, die den Balkon abtrennte. Hastig klammerte sie sich daran fest, fand ihr Gleichgewicht wieder und schloß den Vorhang wie durch Zufall. »Verzeiht, Gebieterin«, sagte sie demütig. »Ich wollte nur...«
»Ich weiß, was du wolltest«, unterbrach sie Lyss ungehalten. »Ich denke, du mußt noch eine Menge lernen, mein Kind. Gehorchen, zum Beispiel. Geh jetzt zurück und setz dich wieder.«
Diesmal gehorchte Tally sofort; allein, um Lyss' Miß-
trauen nicht noch weiter zu schüren. Sie war sich des Risikos durchaus im klaren, daß sie eingegangen war.
Aber sie hatte keine Wahl. Und tatsächlich schien Lyss ihr Benehmen ihrer Angst und Nervosität zuzuschreiben; denn sie verzichtete darauf, noch einmal auf den Balkon zurückzugehen, sondern wandte sich ganz im Gegenteil noch einmal um und schloß auch die letzten Falten des Vorhanges, um den eisigen Zugwind auszu-sperren.
Als sie damit fertig war, wurden in dem aufwärts führenden Gang die schleifenden Schritte chitingepanzerter Füße laut, und wenige Augenblicke später erschienen die beiden Hornköpfe und die dritte Drachenreiterin, deren Namen Tally noch nicht kannte. Rasch trat sie auf Lyss zu, verbeugte sich demütig und sagte: »Ihr habt mich rufen lassen, Gebieterin?«
Lyss ignorierte sie einfach. Statt dessen trat sie auf Vakk zu, deutete auf ihn, dann auf Tally und schließlich wieder auf ihn und gab wieder einen jener sonderbar hohen Pfeiflaute ab, offensichtlich ein Wort in der Sprache dieser entsetzlichen Kreatur.
Der Hornkopf kippte seinen ganzen gewaltigen Körper nach vorne, um ein menschliches Nicken zu imitieren, trat an Lyss vorbei und blieb dicht vor Tally stehen. Der Blick seiner ausdruckslosen Facettenaugen richtete sich auf ihr Gesicht, und obwohl sie diesmal gewarnt war und ihm auswich, begann sie sich fast sofort wieder unwohl zu fühlen.
Erst jetzt, als sie ihm kaum auf Armeslänge gegenüberstand, sah sie, wie groß und massig der Hornkopf wirklich war. Sein gewaltiger Käferleib mußte eine Tonne wiegen. Die riesigen Beißzangen, die wie eine barbari-sche Krone hoch über seinen gehörnten Schädel hinaus-ragten, streiften fast die Decke des Raumes. Jedes einzelne seiner sechs Beine war so dick wie Tallys Oberschenkel, und mit stahlhartem Chitin gepanzert. Aus den Enden seiner beiden Beinpaare wuchsen Hände, jede mit mindestens zehn Fingern und drei Daumen, wovon die beiden oberen kräftig und sehr groß, die unteren Hände beinahe zart, dafür aber sehr geschickt, wirkten. Sein Rückenpanzer zitterte ganz leicht, und Tally sah jetzt, daß er in der Mitte gespalten war. Darunter glänzte das filigrane Gespinst durchsichtiger Käferflü-
gel. Die Chitinplatten, die sie bedeckten, waren so dick wie Tallys Daumen.
»Also«, sagte Lyss befehlend. »Jetzt erzähle.«
Tally gab sich alle Mühe, dem Blick des Riesenkäfers auszuweichen, als sie zu ihr aufsah. »Was... soll ich erzählen Gebieterin?« fragte sie stockend.
Ein Schatten huschte über Lyss' Gesicht. »Deine Geschichte, Tally«, antwortete sie unwillig. »Das, was du uns vorhin erzählt hast. Oder hast du sie schon vergessen?« Sie lächelte böse, schob ihre Waffe in den Gürtel zurück und kam näher, blieb aber ein Stück hinter und neben Vakk stehen.