»Aber das... das habe ich doch schon«, stammelte Tally. »Ich habe Euch alles gesagt, was ich weiß!«
»Dann tu' es noch einmal«, fauchte Lyss ungeduldig.
Sie deutete auf Vakk. »Ich möchte es noch einmal hören, verstehst du? Von Anfang an. Er wird erkennen, ob du die Wahrheit sagst.«
Tally fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Ihre Hände wurden feucht vor Schweiß, und ihr Gaumen war mit einem Male zu trocken, daß sie kaum mehr sprechen konnte. Ihre Gedanken überschlugen sich schier. Etwas in ihr hatte sich bisher noch immer an die Hoffnung geklammert, daß Lyss sie schlichtweg getäuscht hatte, um sie aus der Reserve zu locken, aber jetzt wußte sie, daß das nicht stimmte. Vakk war sicherlich kein Telepath, der in ihren Gedanken lesen konnte wie in einem offenen Buch, aber Lyss schien sehr sicher zu sein, daß er Lüge und Wahrheit zu unterscheiden vermochte. Und das Ergebnis blieb sich - zumindest für Tally - gleich. Ihre Lage war verzweifelt. Selbst, wenn sie eine Waffe gehabt hätte - sie bezweifelte, daß ein normales Schwert überhaupt in der Lage war, diesem Monstrum mehr als einen harmlosen Kratzer beizubrin-gen. Wo blieben die Wagas?
»Was ist?« fragte Lyss scharf. »Hast du deine Zunge verschluckt, oder überlegst du dir eine neue Lüge? «
»Ich... ich habe nicht gelogen, Gebieterin«, stammelte Tally. Sie deutete auf Vakk. Ihr Hand zitterte. »Aber er macht mir Angst. Schickt ihn fort, bitte.«
Lyss' Augen wurden schmal. Aber dann hob sie zu Tallys Überraschung die Hand und machte eine knappe, befehlende Geste. »Geh ein Stück zurück, Vakk«, sagte sie.
Der Hornkopf gehorchte tatsächlich. Schlurfend bewegte er sich rückwärts, bis sein gekrümmter Rückenschild fast gegen den Vorhang stieß, und blieb wieder stehen. Tally sah, wie sich die Falten des blauen Samtstoffes ganz sacht bewegten. Fast, als bausche sie der Wind.
Aber nur fast.
»Bist du jetzt zufrieden?« fragte Lyss ungeduldig.
Tally nickte. »Danke. Verzeiht, Herrin, aber er... er sieht so schrecklich aus. Ich habe Angst vor ihm. «
»Jetzt rede«, befahl Lyss unwirsch. »Erzähle alles noch einmal. Genau so, wie du es Maya und mir erzählt hast.«
Tally gehorchte. Sie begann mit ihrem Namen und der Tatsache, daß sie Hrabans Frau und seine Nachfolgerin war, berichtete dann von dem Sandsturm und davon, daß sie sich in diesem Turm gerettet hatte, ohne selbst genau sagen zu können, wie es ihr gelungen war, die mannigfaltigen Sperren zu überwinden, die ihn umgaben. Nichts von dem, was sie sagte, war direkt gelogen, aber sie bildete sich trotzdem nicht ein, Vakk auf diese Weise lange Zeit narren zu können. Alles, was sie brauchte, war ein wenig Zeit. Nervös blickte sie zu Vakk hoch. Der Blick seiner gläsernen Augen war ausdruckslos wie immer, aber seine kleinen Hände hoben und senkten sich nervös, und manchmal drang ein knisternder Laut unter seinem Panzer hervor, wenn sich die Hügel darunter bewegten.
Als sie bei der Stelle ihrer Erzählung angekommen war, an der sie den eigentlichen Turm betrat, unterbrach sie Lyss. »Du hast also alles ganz genau so vorgefunden, wie es jetzt ist?« sagte sie lauernd. »Dies alles hier war bereits verwüstet, ehe du kamst?«
Tally warf einen nervösen Blick auf Vakk, ehe sie nickte. »Ja, Herrin«, sagte sie.
Vakk hob eine seiner zahlreichen Hände. »Hschieee hlhüüüükt«, hauchte er.
Es dauerte einen Moment, bis Tally begriff, daß dieses entsetzliche Wesen gesprochen hatte - seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, lächerlich angesichts seiner gewaltigen Größe, und seine Worte derart verzerrt, daß Tally sie eher erriet, als sie sie verstand. Aber sie sah, wie Lyss erbleichte. Ihre Hand näherte sich erneut der fürch-terlichen Waffe in ihrem Gürtel.
»Du lügst!« wiederholte sie Vakks Worte.
»Stimmt«, antwortet Tally. Dann sprang sie.
Ihr Angriff mußte so ziemlich das Letzte gewesen sein, womit Lyss gerechnet hatte, denn sie machte nicht die leiseste Bewegung, ihr auszuweichen, sondern stand wie versteinert da, bis Tally gegen sie prallte und sie von den Füßen riß. Hinter ihr erscholl ein schriller, keuchender Schrei, und noch während sie zusammen mit Lyss zu Boden stürzte, sah sie, wie der riesige Samtvorhang plötzlich zu bizarrem Leben zu erwachen schien und sich wie ein Netz auf Vakk herabsenkte. Dann erwachte Lyss endlich aus ihrer Erstarrung, und für die nächsten Augenblicke hatte Tally anderes zu tun, als auf Vakk und die beiden Wagas zu achten.
Sie spürte gleich, daß sie viel stärker und geschickter war als die Drachenreiterin. Aber Lyss wehrte sich mit der Kraft und Wut einer Wildkatze. Tallys Knie nagelte ihre rechte Hand an den Boden, so daß sie ihre Waffe nicht ziehen konnte, aber ihre andere Hand schlug und kratzte nach ihrem Gesicht, während sie wie von Sinnen mit den Beinen strampelte und ihr immer wieder die Knie in den Rücken stieß.
Tally versetzte ihr einen Faustschlag gegen die Schläfe.
Lyss bäumte sich auf, schrie vor Schmerz und erschlaffte plötzlich.
Aber sie hatte die dritte Drachenreiterin vergessen. Tally sah einen Schatten auf sich zurasen, zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern und hob schützend die Hand vor das Gesicht. Trotzdem traf sie der Tritt mit solcher Wucht, daß sie von Lyss' Brust herunterkippte und haltlos über den Boden rollte. Die Frau in der schwarzen Lederbe-kleidung setzte ihr nach, trat abermals nach ihrem Gesicht und stieß ein überraschtes Keuchen aus, als Tally ihren Fuß packte und so wuchtig herumdrehte, daß sie nun ihrerseits das Gleichgewicht verlor. Noch im Fallen versuchte sie ihre Waffe zu ziehen, aber Tally ließ ihr keine Chance. Blitzschnell packte sie ihre Hand, verdrehte sie und brach ihr mit einem harten Ruck den Arm.
Das Gesicht der jungen Frau verzente sich vor Schmerz.
Sie krümmte sich und begann zu wimmern.
Tally drehte sie grob auf den Rücken, schlug ihr die Faust unter das Kinn und hob in der gleichen Bewegung die Waffe auf, die sie fallengelassen hatte. Ihr Daumen senkte sich auf das rote Dämonenauge in ihrem Griff. Sie hatte sehr genau hingesehen, wie die Drachenreiterinnen ihre Waffen handhabten.
Aber es war nicht nötig, sie zu benutzen. Die beiden Riesenameisen standen einfach blöde da und glotzten; denn schließlich hatte ihnen niemand gesagt, daß sie in den Kampf eingreifen sollten. Und als Tally sich herumdrehte, waren Hrhon und Essk gerade dabei, ein zappelndes blaues Riesenpaket über die Balkonbrüstung zu hieven, was offensichtlich ihre gesamte Kraft in Anspruch nahm. Vakk wehrte sich verzweifelt, aber der Vorhang preßte seine Glieder erbarmungslos zusammen, und selbst seine gewaltigen Kräfte schienen nicht auszu-reichen, den schweren Samtstoff zu zerreißen. Nur eine seiner kleinen, vielfingrigen Hände ragte zwischen den blauen Falten hervor und versuchte, sich an der Balkonbrüstung festzuhalten. Hrhon schlug so wuchtig mit der Faust zu, daß fünf oder sechs der winzigen Klauen abbrachen.
Tally drehte sich wieder herum und sah auf Lyss herab. Die Drachenreiterin war bei Bewußtsein, schien aber nicht die Kraft zu haben, sich zu erheben; denn als sie es versuchte, knickten ihre Arme unter ihrem Körpergewicht ein. Sie fiel auf das Gesicht und schlug sich die Lippen blutig. Ein leises, qualvolles Stöhnen drang aus ihrer Brust.