»Du hast recht...« Tally nickte - eigentlich gegen ihre Überzeugung - fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen und deutete in den Wald zurück.
»Laßt uns verschwinden, ehe sie uns wirklich sehen können.«
Hastig wichen sie in die Deckung des Waldes zurück, weit genug, um von den Reitern, die zweifellos auf den Rücken der drei Drachen saßen, nicht mehr gesehen werden zu können, aber noch nicht ganz bis in den Bereich ewiger Dämmerung hinein.
»Und jetzt?« fragte sie.
Karan deutete in die grüngraue Dämmerung hinein.
»Nach Norden. Karan weiß einen sicheren Platz für die Nacht.«
Ohne ein weiteres Wort gingen sie los.
Karans sicherer Platz für die Nacht war ein Alptraum.
Stunde um Stunde waren sie durch das schwindelndma-chende Halblicht der Dämmerungszone gelaufen. Mal waren sie über titanische Äste balanciert, mal hatten sie sich an jäh aufklaffenden Abgründen entlanggetastet; die meiste Zeit jedoch waren sie über das gewaltige Netz aus Pflanzenfasern und Gestrüpp gegangen, das sich hundert Meter über dem Boden spannte, einem zweiten, nach oben verlegten Waldboden gleich, eingehüllt von unheimlichem Licht und Stille und dem beständig strö-
menden Regen. Bald schien es Tally, als könne sie sich schon gar nicht mehr erinnern, wie es war, nicht bis auf die Haut durchnäßt zu sein und zu frieren. Aber ganz, wie Karan es prophezeit hatte, hörte der Regen nicht auf, sondern fiel unablässig, bis es dunkel wurde.
Mit dem letzten Licht des Tages schließlich erreichten sie den verbrannten Baum. Obwohl es oben über dem Wald bereits dämmerte, wurde es vor ihnen noch einmal heller; denn das Blätterdach des Wipfels war hier nicht so vollends geschlossen wie anderswo - das geschwärzte Skelett des Riesenbaumes ragte wie eine vielfingrige Knochenhand in den Himmel hinauf. Sein Stamm, der den Durchmesser eines Hauses hatte, glänzte vor Feuchtigkeit wie poliertes schwarzes Eisen, und allein sein Anblick ließ Tally einen Moment im Schritt verharren. Er wirkte... böse.
Es war nicht einfach nur ein toter Baum, dachte Tally schaudernd. Irgendwann einmal vor einem oder auch hundert Jahren mußte ihn der Blitz getroffen und gespalten haben, und irgend etwas war mit ihm geschehen, was die Rückkehr des Lebens nachhaltig verhinderte.
Auf der borkigen Rinde aus zu Stein gewordenem Holz war nicht der winzigste Flecken Moos zu sehen; keine der Millionen Parasitenpflanzen, die auf den anderen Stämmen wucherten; nichts. Der Baum war tot, und er war so nachhaltig tot, daß alles Leben seine Nähe zu fliehen schien. Selbst das Netzwerk des Dazwischen war unterbrochen. Der Baum stand inmitten des Waldes wie ein zerbrochener Riesenspeer, der in den Boden gerammt worden war. Und er war Teil jenes entsetzlichen nicht-Waldes dort tief unter ihnen. Den Hauch des abgrundtief Bösen, den sie gespürt hatte, als Karan ihr das erste Mal den Boden zeigte, fühlte sie auch jetzt. Wie einen Pes-thauch, den das schwarze Monstrum ausstrahlte.
Im Nachhinein erschien es Tally wie ein Wunder, daß sie alle die waghalsige Kletterei unbeschadet überstanden hatten, die nötig gewesen war, die letzten Meter zu überwinden. Nicht, daß sie auch nur noch einen einzigen Gedanken daran verschwendet hätte, als sie es geschafft hatten... Ihre Aufmerksamkeit wurde voll von dem in Anspruch genommen, was sie in seinem Inneren erwartete ...
Sie war nicht sehr überrascht, den Baum hohl vorzu-finden.
Hohl - nicht leer.
Nur wenig mehr als einen Meter unter der Stelle, an der Karan sie durch den zerborstenen Stamm führte, spannte sich ein gewaltiges, silbernweißes Spinnennetz. Seine Fäden waren absurd dünn, verglichen mit der ungeheuerlichen Größe des Gebildes - Tally schätzte seinen Durchmesser auf gut zwanzig Meter -, nicht sehr viel stärker als normale Spinnweben. Aber es waren Millarden.
»Wenn... das ein Witz sein sollte, war es kein Guter, Karan«, sagte Angella. Ihre Stimme zitterte vor Ekel.
»Was soll das?«
»Es ist ein sicherer Platz«, beharrte Karan. »Geht hinein - keine Sorge, es ist fest genug, selbst den Waga zu tragen.«
Angella keuchte. »Hinein?« wiederholte sie ungläubig.
Ihre Stimme wurde schrill. »Du bist völlig überge-schnappt, was?«
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Karan ruhig. »Die Wesen, die es geschaffen haben, sind fort.«
»Es sieht ziemlich neu aus«, sagte Tally. Auch sie mußte all ihre Beherrschung aufbieten, um wenigstens äußerlich ruhig zu erscheinen. Die Vorstellung, dieses ungeheuerliche Spinnennetz zu berühren, erfüllte sie mit unbeschreiblichem Ekel. Ihre Augen begannen sich allmählich an das schwache Licht hier drinnen zu gewöhnen, und sie sah zahllose, in helle Spinnenseide einge-schlossene Kokons unterschiedlicher Größe. Beute. In manchen von ihnen bewegte sich etwas. Das Gefühl von Ekel in Tallys Magen steigerte sich zu echter körperlicher Übelkeit. Sauer schmeckender Speichel sammelte sich unter ihrer Zunge.
»Sie sind fort«, beharrte Karan. »Sie werden nicht kommen, solange wir hier sind.«
Tally sah ihn zweifelnd an. Karan lächelte aufmunternd - und sprang mit einem Satz auf das Netz herunter! Ein Laut wie von einer ungeheuer großen, gläsernen Harfe erklang; Augenblicke später antwortete ein Echo aus der unsichtbaren Tiefe. Aber das Netz, so zerbrechlich es aussah, hielt.
»Kommt schon«, sagte Karan auffordernd. »Es ist wirklich sicher hier!«
Tally bezweifelte das nicht einmal. Aber sie hätte sich im Moment wohl eher den rechten Arm abhacken lassen, als dieses widerwärtige Netz auch nur zu berühren.
»Jemand sollte Wache halten«, sagte sie.
Karan sah sie nur schweigend an, während Angella hörbar die Luft ausstieß. »Und dieser Jemand bist natürlich du«, sagte sie.
»Wer sonst?« Tally drehte sich abrupt herum und ging wieder ins Freie. Sie spürte echte körperliche Erleichterung, aus der Nähe des Netzes verschwinden zu kon-nen. Außerdem hatte sie keine Lust, sich mit Angella zu streiten.
Es war vollends dunkel geworden, als sie ins Freie hinaustrat. Der Himmel über dem Wald war schwarz und leer, und es wurde empfindlich kalt. Tally rieb sich schaudernd die Oberarme mit den Händen, suchte sich eine windgeschützte Ecke in dem Gewirr aus versteinerten Ästen und hockte sich hin. Zumindest hatte der Regen aufgehört.
Tally war müde, so müde, daß es ihr schwer fiel, die Augen offen zu halten; sie war sich darüber im Klaren, daß sie kaum mehr in der Lage sein würde, wirklich zu wachen. Die Anstrengungen des vergangenen Tages for-derten ihren Preis; jetzt, wo sie zur Ruhe kam. Aber sie wehrte sich auch nicht dagegen. Zum einen hatte es mit Sicherheit keinen Sinn, und zum anderen... nun, sie wollte auch nicht mehr.
Zum ersten Male in ihrem Leben war Tally des Kämpfens wirklich müde. Hätte sich in diesem Augenblick die Dunkelheit vor ihr geteilt und Jandhi oder eine der anderen Drachentöchter wäre hervorgetreten, sie hätte sich nicht mehr gewehrt. Es war ein Gefühl, das ihr fremd war, gegen das sie aber nicht anzukämpfen versuchte. Vielleicht der Einfluß des Schlundes.
»Tally...«
Tally sah auf; verwirrt, überrascht, aber auch alarmiert.