Bevor jemand ihn davon abhalten konnte, hatte Murray ein Taschentuch hervorgezogen, es mit den Lippen angefeuchtet (ein Taschentuch im Mund war eines der Dinge, bei denen sich Page unweigerlich die Zähne zusammenzogen) und einen kleinen Bereich freigewischt, etwa in der Mitte der Klinge. Hervor kamen grob in den Stahl geritzte Buchstaben, und zusammen ergaben sie das Wort
Madeline.
»Das ist Ihres, Johnny«, sagte Murray mit Gusto. »Sie haben den Namen hineingeritzt, als wir einmal eine Steinmetzwerkstatt in Ilford besichtigt haben.«
»Madeline«, sagte Gore noch einmal.
Er öffnete einen Fensterflügel und warf die Zigarre hinaus unter die nassen Bäume. Doch Page konnte für einen Augenblick sein Gesicht sehen, das sich in dem trüben Glas spiegelte: Es war ein seltsames, starres, unergründliches Gesicht, ganz anders als der spöttische Ausdruck, mit dem Gore sonst gern zeigte, um wieviel größer seine Gelassenheit war als diejenige aller, die ihn umgaben. Er wandte sich um.
»Aber was ist denn nun mit dem Messer? Soll das heißen, daß dieser arme, gequälte Gauner, der so gerne anständig geworden wäre, es all die Jahre mit sich herumtrug und sich schließlich am Teich die Kehle damit durchschnitt? Sie scheinen ja überzeugt, daß es sich um Mord handelt, und doch – und doch …«
Er schlug sich nachdenklich mit der flachen Hand aufs Knie.
»Ich will Ihnen verraten, was es ist, meine Herren«, sagte Elliot, »es ist ein absolut unmögliches Verbrechen.«
Er gab ihnen Knowles’ Aussage in allen Einzelheiten wieder. Das Interesse, das Gore und Murray an den Tag legten, stand in krassem Gegensatz zur offensichtlichen Abscheu und der Verwirrung Welkyns. Als Elliot beschrieb, wie das Messer sich gefunden hatte, kam eine spürbare Unruhe in die Gruppe.
»Kein Mensch in der Nähe und doch ermordet«, sagte Gore nachdenklich. Er sah Murray an. »Meister, das ist doch ein Fall ganz nach Ihrem Geschmack. Ich erkenne Sie gar nicht wieder. Vielleicht haben wir uns doch zu lange nicht gesehen; aber früher, da hätten Sie Luftsprünge um den Inspektor gemacht, die kuriosesten Theorien zum besten gegeben, Ihr Bart hätte geknistert vor Energie …«
»Ich bin eben jetzt kein Dummkopf mehr, Johnny.«
»Aber lassen Sie uns doch eine von Ihren Theorien hören. Irgendeine. Sie sind der einzige, der bisher noch überhaupt nichts zu der Sache gesagt hat.«
»Ich unterstütze den Antrag«, sagte Dr. Fell.
Murray machte es sich bequemer und hob warnend den Zeigefinger.
»Wenn man sich der puren Logik verschreibt«, hob er an, »ist das oft vergleichbar mit einer gewaltigen Rechenaufgabe, bei der wir irgendwann feststellen, daß wir vergessen haben, ›eins im Sinn‹ zu behalten oder mit zwei zu multiplizieren. Jede unter tausend Zahlen kann dann korrekt sein, nur die eine nicht, und die Abweichung im Ergebnis ist enorm. Deshalb will ich es nicht als Logik verstanden wissen, was ich sage. Es ist nur ein Vorschlag. – Sie wissen, Inspektor, daß das Urteil der gerichtlichen Untersuchung fast mit Sicherheit auf Selbstmord lauten wird?«
»Da bin ich mir nicht so sicher, Sir. Nicht unbedingt«, erklärte Elliot. »Ein Heft wurde gestohlen und zurückerstattet, ein Mädchen beinahe zu Tode erschreckt …«
»Sie wissen ebensogut wie ich«, sagte Murray und sah ihn eindringlich an, »zu welchem Urteil die Geschworenen kommen werden. Es ist zumindest halbwegs vorstellbar, daß der Tote Selbstmord beging und das Messer fortwarf, und es ist unmöglich, daß er ermordet wurde. Ich persönlich gehe allerdings davon aus, daß es Mord war.«
»Hä«, sagte Dr. Fell und rieb sich die Hände. »Hä-hä-hä. Und Ihre Theorie?«
»Immer vorausgesetzt, es war Mord«, sagte Murray, »würde ich sagen, daß das Opfer nicht mit dem Messer umgebracht wurde, das wir hier vor uns haben. Für meine Begriffe sind die Verletzungen an seiner Kehle eher wie die Male von Reißzähnen oder Krallen.«
Kapitel 11
»Krallen?« fragte Elliot.
»Ich hatte mir erlaubt, den Ausdruck etwas freier zu gebrauchen«, sagte Murray, nun so schulmeisterlich, daß Page ihn am liebsten vors Schienbein getreten hätte. »Es müssen nicht unbedingt die Krallen eines Tiers gewesen sein. Soll ich Ihnen erläutern, was mir durch den Kopf geht?«
Elliot lächelte. »Nur zu. Mir soll’s recht sein. Und ich könnte mir vorstellen, daß Sie noch eine Menge zu erläutern haben.«
»Dann stellen Sie sich einmal folgendes vor«, sagte Murray, nun plötzlich wieder im Plauderton. »Wenn wir davon ausgehen, daß es Mord war, und wenn wir uns vorstellen, daß das Messer die Tatwaffe war, dann ergibt sich dabei eine Frage, die mich sehr beschäftigt. Und zwar diese: Warum hat der Mörder das Messer nicht anschließend in den Teich geworfen?«
Doch auch weiterhin sah der Inspektor ihn nur fragend an.
»Überlegen Sie doch, wie es war. Derjenige, der diesen Mann umgebracht hat, hatte sich ein fast perfektes – äh …«
»Arrangement?« schlug Gore vor, als der andere zögerte.
»Ein gräßliches Wort, Johnny, aber es wird reichen. Also. Der Mörder hatte sich ein fast perfektes Arrangement ausgedacht, bei dem alles auf Selbstmord verweisen würde. Stellen Sie sich vor, er hätte seinem Opfer die Kehle durchschnitten und das Messer in den Teich geworfen. Kein Mensch hätte anschließend daran gezweifelt, daß es Selbstmord war. Das Opfer war ein Hochstapler, dessen Entlarvung bevorstand – der Selbstmord schien sein einziger Ausweg. Selbst so wie die Dinge jetzt stehen, haben Sie ja Mühe zu glauben, daß er sich nicht selbst umgebracht hat. Hätte das Messer im Teich gelegen, wäre es ein eindeutiger Fall gewesen. Das hätte sogar als Erklärung gereicht, daß der Tote keine Fingerabdrücke auf dem Messer hinterlassen hatte.
Nun lasse ich mir, meine Herren, nicht erzählen, daß der Mörder nicht wollte, daß es aussah wie Selbstmord. Jeder Mörder wünscht sich das. Wenn es sich einrichten läßt, ist ein falscher Selbstmord für ihn der beste Schutz. Warum ist also das Messer nicht im Teich gelandet? Es hätte niemanden belastet außer den Toten: ein weiteres Indiz dafür, daß er sich umgebracht hatte – und vermutlich der Grund dafür, daß der Täter dieses Mittel wählte. Doch statt dessen nimmt der Mörder es und steckt es (wenn ich mich Ihrer Deutung anschließe) in eine Hecke drei Meter vom Teich fort.«
»Und was beweist das?« fragte Elliot.
»Das beweist überhaupt nichts.« Murray hob den Finger. »Aber es deutet eine ganze Menge an. Überlegen Sie nun, wie dieses Verhalten zu dem Verbrechen paßt. Glauben Sie dem alten Knowles seine Geschichte?«
»Im Augenblick sind wir bei Ihren Theorien, Sir.«
»Das ist eine legitime Frage«, erwiderte Murray recht streng, und Page hatte das Gefühl, daß er nur mit Mühe ein »Nicht so zimperlich, junger Herr« unterdrückte. »Wenn wir so weitermachen, kommen wir zu nichts.«
»Genausowenig kommen wir weiter, wenn wir sagen, daß ich an etwas Unmögliches glaube, Mr. Murray.«
»Dann glauben Sie also, es war Selbstmord?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»An was glauben Sie dann?«
Elliot unterdrückte ein Grinsen. »So wie Sie zubeißen, Sir, sollte ich wohl besser antworten. Es gibt – sagen wir – Indizien, die Knowles’ Darstellung stützen. Lassen Sie uns der Einfachheit halber davon ausgehen, daß ich ihm seine Geschichte abnehme oder zumindest überzeugt bin, daß er sie für die Wahrheit hält. Wie geht es dann weiter?«
»Nun, wir können folgern, daß er nichts gesehen hat, weil es nichts zu sehen gab. Das läßt sich kaum bezweifeln. Der Mann am Teich stand allein, umgeben von einer Fläche aus Sand. Folglich ist kein Mörder zu ihm getreten. Folglich geschah der Mord nicht mit dem schartigen und dramatisch blutbefleckten Messer, das wir hier vor uns liegen haben; das Messer wurde später in die Hecke gesteckt, damit Sie glauben sollten, es sei die Tatwaffe. Stimmen Sie mir soweit zu? Da das Messer nicht durch die Luft geflogen sein, ihm dreimal die Kehle durchschnitten und dann einen Satz in die Hecke gemacht haben kann, können wir folgern, daß es nicht die Tatwaffe war. Das ist doch überzeugend, oder?«