Der Mann drückte den Knopf am Tonbandgerät und ich tanzte. Das Band dauerte 11 Minuten und 17 Sekunden. Das Stück war gut, in seine melodischen Linien und seiner Stimmung. Es war eines meiner Lieblingsstücke. Aber noch nie hatte ich in einer derartigen Panik zu ihm getanzt. Noch nie hatte ich vor Männern zu ihm getanzt. Dann endete es mit einem Wirbel, ich drehte mich noch einmal und sank vor den Männern auf die Knie, den Kopf gesenkt, meine Hände auf meinen Schenkeln, in der passenden Endposition für solch einen Tanz. Ich glaube, ich war niemals vorher so tief betroffen von der Bedeutung dieser Endposition, sie entsprach der Schönheit des Tanzes und präsentierte die Tänzerin in einer Körperhaltung der Unterwerfung.
»Du wirkst verängstigt.« sagte er.
»Ja.« antwortete ich.
Er holte ein kleines, weiches Tuch aus seiner Tasche. Er reichte es mir und ich nahm es.
»Erkennst du das?« fragte er.
»Ja.« sagte ich ängstlich.
Es war das winzige Stück Seide, das ich mir vor langer Zeit genäht und nur ein einziges Mal, in der von Kerzen erhellten Verschwiegenheit meines Schlafzimmers, getragen hatte.
»Zieh deine Sachen aus und lege es an.« befahl er. »Lass die Glöckchen am Knöchel, sie helfen uns, auf dich zu achten.«
Ich sah ihn protestierend an.
»Du kannst dich natürlich auch im Waschraum umziehen, wenn du willst.« erlaubte er mir.
Ich ging zwischen den beiden anderen Männern hindurch zur Toilette und schob die kaputte Tür beiseite. Sie warteten draußen, als hätten sie Respekt vor meiner Privatsphäre.
Ich schaltete das Licht ein. Ich nahm den Schmuck ab, den ich um Fußgelenk und Hals getragen hatte. Dann langte ich an meinen Rücken, hakte den scharlachroten BH auf und schlüpfte heraus. Ich sah meine Brüste an. In dem winzigen Stück Seide, das ich anziehen sollte, war ihre Form und ihr Reiz nicht zu übersehen. Dann zog ich Strümpfe und Rock aus. Bis auf den Lederriemen mit den Glöckchen um mein Fußgelenk war ich nackt. Ich fühlte mich fremd hier, nackt in der Damentoilette der Bibliothek. Dann zog ich das kleine Stück Seide über meinen Kopf.
Offensichtlich hatten sie mein Zimmer durchsucht und es gefunden. Sie schienen alles über mich zu wissen. Vielleicht war es ihr Job, mich auszuspionieren. Vielleicht gab es wenig über mich, dass sie nicht schon wussten. Sie wussten ja sogar von dem Stück Seide, das jetzt meinen Körper bedeckte, und das war mein bestgehütetstes Geheimnis.
Ich schaltete das Licht in der Damentoilette aus und ging, mit leisem Klingeln der Glöckchen an meinem Fußgelenk, zurück.
»Bleib dort stehen.« sagte der Mann.
Ich tat es.
»Jetzt dreh dich langsam vor uns.« sagte er.
Ich gehorchte.
»Gut.« sagte er.
Ich sah ihn an.
»Knie nieder« forderte er.
Ich kniete nieder.
»Bei deinem Tanz«, stellte er fest, »warst du verängstigt.«
»Ja.« sagte ich.
»Dennoch«, sagte er, »ist es offensichtlich, dass du nicht ohne Talent bist, vielleicht hast du sogar beachtliches Talent.«
Ich war still.
»Aber es ist auch offensichtlich, dass du dich zurückgehalten hast, dass du wie eine typische Frau von der Erde versuchst, Männer zu täuschen, dass du ihnen nicht alles gibst, was du hast. Das ist dir jetzt nicht länger erlaubt.«
»– von der Erde?« fiel ich ihm ins Wort.
»Frauen sehen gut aus in Kleidung, wie du sie trägst.« fuhr er fort, ohne darauf einzugehen. »Sie entspricht ihnen.«
Wieder ich war still. Es war dunkel in der Bibliothek, aber natürlich nicht vollkommen dunkel. Es gab viel Schatten aber auch hellere Stellen, dunkle und hellere Bereiche. Auf den Platz, an dem wir uns befanden fiel Mondlicht und das Licht einer etwa hundert Fuß entfernten Straßenlaterne. Sie stand am westlichen Ende des Parkplatzes, am Bürgersteig, hauptsächlich wohl, um die Straße neben der Bibliothek zu beleuchten. Vor dem Haupteingang endet eine Straße.
Es war Frühling, aber ich hatte die Anzeichen dafür noch nicht bemerkt. Das Gebäude war warm.
»Bist du eine ›Frau‹«, fragte der Mann.
»Ja.« antwortete ich.
Wieder fiel mir nichts weiter zu sagen ein. Er hatte mich das schon vor Monaten gefragt, auf dem Gang, während unserer ersten Begegnung. Ich nahm an, dass meine Antwort zutraf, in gewissem Sinn.
»Es ist leicht genug, das von einer Frau zu bekommen.« sagte er.
Ich sah ihn verblüfft an.
»Bist du eine Intellektuelle?« fragte er weiter.
»Nein.« antwortete ich, genauso, wie ich während unserer ersten Begegnung vor langer Zeit geantwortet hatte.
»Und doch gibt es unter den privaten Büchern in deiner Unterkunft solche wie Rosovtzeffs ›Geschichte der antiken Welt‹ und Mommsens ›Geschichte Roms‹.« sagte er. »Hast du sie gelesen?«
»Ja.« antwortete ich.
»Die werden beide nicht mehr aufgelegt.« sagte er.
»Ich kaufte sie in einem Antiquariat.« entgegnete ich.
Er hatte »Unterkunft« gesagt und nicht zum Beispiel »Zimmer« oder »Appartement«. Das erschien mir merkwürdig. Auch war jetzt, als er länger als jemals zuvor gesprochen hatte, sein Akzent hörbar. Aber ich konnte ihn immer noch nicht zuordnen. Ich war sicher, dass seine Muttersprache nicht Englisch war. Ich wusste nicht, wo er herkam. Ich war noch nie auf einen Mann wie ihn gestoßen. Ich hatte nicht gewusst, dass es sie gab.
»Frauen wie du«, sagte er, »benutzen solche Bücher mehr als Kosmetik und Ornament, mehr als intellektuelle Verzierung. Sie bedeuten dir nicht mehr als dein Lippenstift und Lidschatten, als der Tand in deinem Schmuckkasten. Ich verachte Frauen wie dich.«
Ich sah ihn erschrocken an. Ich verstand seine Feindseligkeit nicht. Er schien mich oder die Art von Frau, der ich seiner Meinung nach entsprach, zu hassen. Ich fürchtete, dass er mich nicht verstehen wollte. Er schien nicht erkennen zu wollen, dass mein Interesse an diesen Dingen, an ihrer Schönheit und ihrem Wert, durchaus ehrlich gemeint war. Sicher war meine Motivation zum Kauf dieser Bücher zum Teil auch Eitelkeit gewesen sein, aber jetzt, da war ich mir sicher, stand echtes Interesse dahinter. Es musste dahinter stehen!
»Hast du aus diesen Büchern irgend etwas lernen können?« fragte er.
»Ich glaube schon.«
»Verstehst du die Welten, von denen sie sprechen?«
»Ein wenig.«
»Vielleicht nützt es dir ja ein wenig.« sagte er nachdenklich.
»Ich verstehe nicht.«
»Aber solche Bücher«, sagte er abrupt, »liegen jetzt hinter dir.«
»Ich verstehe nicht.« wiederholte ich ratlos.
»Du wirst sie dort, wo du hingebracht wirst, nicht brauchen.« sagte er nachdrücklich.
»Ich verstehe nicht.« sagte ich noch einmal.
»Solche Dinge werden nicht mehr zu deinem Leben gehören.« sagte er. »Dein Leben wird sich völlig ändern.«
»Ich verstehe nicht«, sagte ich erschrocken, »wovon reden Sie?«
»Du bist zweifellos eine Frau mit intellektuellen Ansprüchen.« sagte er.
Ich schwieg.
»Denkst du, dass du intelligent bist?« fragte er.
»Ja.«
»Das bist du nicht.« widersprach er.
Ich schwieg.
»Aber du besitzt zweifellos eine Art Intelligenz«, fuhr er fort, »auf deine kleine, gemeine Weise.«
Ich sah wütend zu ihm auf.
»Und du wirst jedes bisschen davon brauchen, das versichere ich dir«, sagte er weiter, »nur um am Leben zu bleiben.«
Ich sah erschrocken zu ihm auf.
»Abscheuliche Schlampe.« schrie er mich an.