Mein Herr war Tyrrhenius aus Argentum, der die Taverne besaß. Selbstverständlich durfte ich dort nicht tanzen. Er wollte nicht, dass ich als eines seiner Mädchen bekannt wurde. Er hatte heimliche Geschäftsbeziehungen mit verschiedenen Herren von Arbeitskolonnen, unter ihnen war auch Ionicus.
Mein Herr hatte mich einmal, als ich ihm den Fuß leckte, dafür gelobt, dass ich solch ein ausgezeichnetes Ködermädchen wäre.
»Ich danke dir, Herr.« hatte ich geantwortet.
Ich war ein Sklavenmädchen. Wir mussten unseren Herren gehorchen.
»Hol den Karren.« befahl der erste der Männer meines Herrn.
»Ja, Herr.« entgegnete ich und eilte hinaus auf die Straße, wo wir den Handkarren gelassen hatten.
Während in den Städten die Rechte der Bürger am klarsten definiert sind, die Sitten und Traditionen eifersüchtig geschützt werden, der Einfluss des Heimsteins am meisten zu fühlen ist und freie Arbeiter etwas auf sich halten, konnte man das gleiche von den ländlichen Gegenden nicht sagen, besonders nicht von jenen, die außerhalb der Gerichtsbarkeit und des Einflusses von Städten gelegen waren. Man fühlt sich eben nicht als Bürger einer Stadt, wenn sie mehr als einen Tagesmarsch weit entfernt ist. Und wenn man als Bürger nicht effektiv am Leben seiner Stadt teilnehmen kann, wird man ihr auch nicht loyal gegenüberstehen und sich eher als Lokalpatriot seines Dorfes oder seiner Großfarm fühlen.
In den letzten Jahren hat sich die Institution der »Großfarm« mit ihrer eigenen Planung, Organisation, landwirtschaftlichen Sachkenntnis und ihren eigenen Sklaven auf Gor verbreitet. Manche goreanische Bauern besitzen das Land, das sie bewirtschaften, manche pachten es von ihrem Dorf. Beide bekommen oft Angebote von Agenten der Großfarmen, die manchmal Privatpersonen gehören und manchmal Gesellschaften. Oft werden diese großzügigen Angebote akzeptiert, mit dem Resultat, dass der Anteil der durch Großfarmen kultivierten Fläche wächst. Es wird erzählt, dass manchmal sogar durch Drohungen und dem Abbrennen der Ernte Druck auf Bauern und Dörfer ausgeübt wird, aber ich denke, das ist eher die Ausnahme. Da die Großfarmen ihre Ziele auch durch legale Geschäfte erreichen haben sie wenig Grund, illegale Methoden anzuwenden. Außerdem sind goreanische Bauern Meister des »Bauernbogens«, einer ungewöhnlich zielgenauen Waffe, mit der ein Mann schnell und kraftvoll schießen kann.
Wenn sie ihr Land an Großfarmen verkauft haben, suchen sich die Bauern gewöhnlich weit entfernt neues Land, um neu anzufangen. Selten gehen sie in die Städte, wo sie zum unzufriedenen städtischen Proletariat gehören würden. Ihre Kastenehre lehnt so etwas ab. Außerdem wären sie natürlich kein Bürger der Stadt und könnten ihr Kastenhandwerk nicht ausüben. Und die Städte sind im Allgemeinen nicht begeistert über den Zustrom von Armen, außer jenen Städten, die ein Interesse daran haben, ihre Bevölkerungszahl zu erhöhen. Der unkontrollierte Zustrom kann in einer Stadt ökonomische Not, Verrat und sogar den Fall der Stadt auslösen.
Ich glaube, dass Städte im Ganzen gemischte Gefühle gegenüber den Großfarmen hegen. Während sie die geringeren Preise der Produkte und die größere Vielfalt durchaus begrüßen, bedauern sie andererseits den Rückgang des lokalen Landvolks, das nicht nur viele Lieferanten und damit ein Stück des Wettbewerbs durch den freien Markt verschwinden lässt, sondern auch die Verteidigungskraft der Stadt schwächt. Wenn sich die Großfarmen organisieren würden, wären sie in der Lage, die Konkurrenz untereinander zu regulieren und höhere Preise durchzusetzen.
Dementsprechend waren viele Städte bereit, Bauern Anreize zu bieten wie die Erleichterung des Erwerbs der Bürgerrechte, die Übernahme von Verlusten, die Veranstaltung von Spielen, von Musik- und Theaterveranstaltungen, spezielle Ehrungen von Mitgliedern der Bauernkaste in den Städten und so weiter. Diese Anreize schienen in vielen Fällen Erfolg zu haben. Der Bauer hat es gern, wenn er geschätzt wird und die Wichtigkeit seiner Arbeit nicht unbemerkt bleibt. Er betrachtet seine Kaste als »den Ochsen, der den Heimstein trägt«. Außerdem zieht er es im Allgemeinen vor, dort zu bleiben, wo er ist. Er mag das Land, das er kennt.
Ich stellte mich zwischen die Griffstangen des Karrens und zog ihn zurück zum Durchgang. Der Mann war jetzt gefesselt und geknebelt. Er war gebunden, dass er so hilflos wie eine Frau und eine Sklavin war. Er war immer noch bewusstlos.
»Geh und pass auf.« befahl einer der Männer meines Herrn.
Ich drehte mich schnell um und rannte zum Ende des Durchgangs, wo ich die Straße in beiden Richtungen überblicken konnte.
Es gibt zwei Arten von nicht zu einzelnen Städten gehörenden Arbeitsgruppen, »freie Banden« und »freie Ketten«. Die einen umfassen freie einheimische Arbeiter einer Stadt, die anderen Sklaven, die gewöhnlich auf Großfarmen arbeiten. Die »freien Banden« bestehen aus freien Männern, die von einem Agenten angeworben werden und ihm ihre Arbeitskraft vermieten. Sie sind so etwas wie reisende Bautrupps. Viele sind gelernte oder angelernte Arbeiter, die kommen und gehen wie es ihnen beliebt. Sie reisen in Wagen umher. Viele sind raue, aber gutherzige Männer. Sie lieben es zu trinken, sich zu schlagen und Sklavinnen zu unterwerfen. In Brundisium war ich in den Händen einiger solcher Männer gewesen. Sie hatten mich dazu gebracht, ihnen gut zu dienen.
Die »freie Kette« dagegen besteht normalerweise, so wurde mir gesagt, aus verurteilten Kriminellen. Statt die Last zu tragen, die die Unterbringung dieser Menschen, von denen viele als gefährlich gelten, mit sich bringt, überlassen viele Städte sie gegen eine geringe Gebühr für die Dauer ihrer Strafe einer Arbeitskolonne zur Zwangsarbeit. Der Herr einer solchen Kolonne profitiert natürlich vom Gewinn seiner Kolonne, die er an verschiedene Privatpersonen oder Gruppen weitervermietet.
»Freie Ketten« arbeiten natürlich billiger als »freie Banden«. Sie können aber oft nur einfache Arbeiten durchführen und werden deshalb normalerweise zu beschwerlichen oder unangenehmen Arbeiten eingesetzt. Wenn ein Krimineller seine Strafe abgesessen hat, soll er vom Herrn seiner Kette weit entfernt von der Stadt, wo er seine Verbrechen begangen hat, freigelassen werden. Oft ist es aber so, dass der Herr die Männer seiner Kette verspätet freilässt, denn er müsste ja nochmals eine Gebühr zahlen, um Ersatz zu beschaffen. Das ist der Grund, warum Männer manchmal viel länger Zwangsarbeit verrichten müssen, als ihre Strafe eigentlich dauert. Der Herr erfindet dann kleinere Vergehen oder Verstöße gegen die Disziplin, um die Dauer der Strafe des betreffenden Arbeiters de facto zu verlängern. Die Hoffnung, freigelassen zu werden, hält natürlich im Allgemeinen die Kette »zahm«. Und gelegentlich wird auch einer der Arbeiter freigelassen. Die Arbeiter einer »freien Kette« unterstehen übrigens der »Sklavendisziplin«, was auf Gor bedeutet, dass sie so von der Gnade ihres Herrn abhängen, als wären sie Sklaven. Er kann sie zum Beispiel töten, wenn er das will.
Mein Herr, Tyrrhenius aus Argentum, von dessen Gnade und von der Gnade derer, die er dazu bestimmt hatte, meine Arbeit zu überwachen, ich abhing, hatte Vereinbarungen mit verschiedenen Herren von Arbeitskolonnen. Der bekannteste von ihnen war Ionicus aus Cos. Der Mann hinter mir, den die Männer meines Herrn gefesselt hatten und den sie gerade auf den Karren legten, war, wie ich gehört hatte, für die »Schwarze Kette« des Ionicus bestimmt. Diese Kette arbeitete im Norden an Erkundungsgräben für die Cosianer, die Torcadino belagerten.
Der Mann und die anderen, an deren Entführung ich beteiligt gewesen war, waren natürlich keine Kriminellen. Mein Herr, Tyrrhenius, bezeichnete seine Arbeit als »Rekrutierung«. Er »rekrutierte« Arbeiter für die Ketten von Kolonnenbesitzern. Natürlich musste er das im Geheimen tun. Wenn bekannt würde, was er da tat, wäre das ziemlich unangenehm für ihn. Richter, Magistrate und andere Beamte würden mit ihm nicht nachsichtig umgehen. Aber das Risiko war für ihn nicht so groß, wie es scheinen mag. Er war nicht persönlich an den Aktionen beteiligt. Die entführten Männer erfuhren nicht, wo sie gefangen gehalten, noch wohin sie in Ketten und unter der Sklavenhaube später hingebracht wurden. Mich, so nahm ich an, würde er, wenn ich genügend Männer in die Falle gelockt hatte, auf irgendeinem Markt verkaufen. Er würde dann ein neues Ködermädchen finden. Soweit ich wusste, verwendete er auch andere seiner Mädchen für diese grausame und betrügerische Aufgabe.