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»Oh«, murmelte Talianna betreten. »Das... das tut mir leid. Woran ist sie gestorben?«

Hraban lachte schallend. »Gestorben? An nichts. Sie lebt und erfreut sich bester Gesundheit, Kind. Aber sie hat einen haarigen Tagedieb aus dem Süden geheiratet und ein halbes Dutzend lärmender Bälger mit ihm bekommen, und ich habe sie davongejagt.« Er beugte sich vor. »Also? Hättest du Lust? Unser Leben ist sicher nicht so bequem und ruhig wie das, das du gewohnt bist, aber dafür spannender. Ich kann dir eine Menge Dinge zeigen, von denen du bisher nicht einmal geträumt hast.«

Einen Moment lang war Talianna ernsthaft in Versuchung, Hrabans Vorschlag anzunehmen, denn der Schmerz über den Verlust ihrer Familie und ihrer Heimat war noch zu frisch, als daß jene Phase betäubenden Kummers eingesetzt hätte, in der einem jegliche Zukunft gleichgültig läßt und das Leben nicht mehr lebenswert erscheint. Außerdem war sie zehn Jahre alt. Aber dann schüttelte sie doch den Kopf und rückte ein Stück näher an Gedelfi heran.

»Nein«, sagte sie. »Ich bleibe bei Gedelfi. Er braucht mich.«

Aber in diesem Moment geschah etwas Sonderbares. Der Blinde entzog ihr abermals seine Hand und schob sie gar ein Stück von sich fort, und obgleich seine Augen seit zwei Jahrzehnten nur ewige Nacht gesehen hatten, wurde ihr Blick so stechend, daß selbst Hraban plötzlich unsicher wurde. »Du meinst das so, wie du es sagst«, sagte er.

Hraban nickte. »Ja. Ich mag das Mädchen. Wofür hälst du mich, Alter?«

»Für das, was du bist«, antwortete Gedelfi. »Ein hübsches Kind wie sie erzielt einen guten Preis auf dem Sklavenmarkt.«

Die Beleidigung ließ Hraban erbleichen. »Glaubst du, ich würde sie bitten, mitzukommen, wenn es so wäre?« fuhr er auf. »Ich sehe niemanden, der mich daran hindern könnte, sie einfach mitzunehmen.« Er ballte die Faust und schlug sich wuchtig auf den Oberschenkel.

»Spring in den Schlund, Alter! Ich habe es nicht nötig, mit einem alten Narren zu schachern.«

»Nein«, antwortete Gedelfi, mit einem Male wieder ganz ruhig. »Das hast du nicht, Hraban.« Er legte die Hand auf Taliannas Schulter und schob sie ein Stück auf Hraban zu. »Nimm sie mit.«

Im allerersten Moment war Talianna so überrascht, daß sie Gedelfi nur mit offenem Mund anstarrte. Dann ergriff sie Zorn. Wütend schüttelte sie seine Hand ab und rutschte noch ein Stück weiter von ihm fort. Was fiel diesen beiden ein, wie um ein Stück Eisen um sie zu feilschen?

»Ich werde nirgendwo hingehen!« protestierte sie.

»Ich –«

»Du wirst den Mund halten und tun, was ich dir sage!« Gedelfis Stimme war so scharf und befehlend, wie sie es noch niemals zuvor erlebt hatte. Taliannas gerechter Zorn verrauchte so schnell, wie er gekommen war, und zurück blieben Unsicherheit und Verwirrung.

»Aber du... du brauchst mich!« sagte sie. »Was willst du ohne mich anfangen?«

»Ich brauche dich?« Gedelfi lachte abfällig. »Was bildest du dir ein, du dummes Kind? Ich brauch dich ungefähr so dringend wie einen Kropf, oder ein Geschwür am Hintern.«

Ein Schlag ins Gesicht hätte Talianna nicht härter treffen können. Entsetzt starrte sie Gedelfi an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Aber wir... wir sind doch immer Freunde gewesen«, jammerte sie. »Ich habe dir doch immer geholfen, und du –«

»Geholfen?« Gedelfi machte ein abfälliges Geräusch.

»Auf die Nerven gegangen bist du mir, mit deinen dummen Fragen. Manchmal warst du ganz nützlich, das stimmt. Aber das heißt nicht, daß ich dich noch länger ertragen muß.«

Talianna begann zu weinen. Irgendwo in ihr war eine Stimme, die ihr zuflüsterte, daß Gedelfi sie absichtlich verletzte, um ihr die Entscheidung zu erleichtern, und sie wußte einfach, daß es ganz und gar nicht so gewesen war, wie er behauptete. Aber dieses Wissen nutzte wenig. Seine Worte taten weh. Verdammt weh.

Und nach einer Weile stand sie ohne ein weiteres Wort auf und ging zu Hraban. Noch am gleichen Abend verließen sie das zerstörte Dorf an der Flußbiegung für immer.

2. Kapitel

Der Turm

1

Die Krell-Echse sprang so warnungslos aus ihrem Sandloch, daß selbst Hrhons übermenschlich schnelle Reaktion zu spät kam. Der Waga stieß den schrillen Warnschrei seines Volkes aus, fuhr im Sattel herum und riß seinen Dolch aus dem Gürtel. Die Waffe zischte dicht über den Hals von Tallys Reitpferd durch die Luft und grub sich mit einem dumpfen Geräusch in den Sand, mit einer Kraft und Schnelligkeit geschleudert, die der einer Kanonenkugel kaum nachstand.

Die Krell-Echse traf sie nicht.

Tally riß im letzten Moment die Arme vor das Gesicht, als sie den gefleckten Schatten auf sich zufliegen sah. Die Krell-Echse prallte gegen sie, klammerte sich mit allen acht Beinen an ihren Arm, ringelte den stahlbewehrten Schwanz um ihren Bizeps und versuchte ihr mit zwei Dutzend winziger, messerscharfer Krallen das Gesicht zu zerfetzen. Ein brennender Schmerz fuhr durch Tallys Hand, als sich die Kiefer des Miniatur-Monsters um ihren rechten Zeigefinger schlossen und nadelspitze Zähnchen in ihre Haut eindrangen.

Sie fluchte ungehemmt, drehte das Gesicht von den wirbelnden Klauen weg und packte die Echse mit beiden Händen. Das Tier stieß ein wütendes Zischen aus, veränderte seine Farbe von Schwarzbraun zu einem grellen, lodernden Rot und löste den Schwanz von ihrem Arm, um mit seinem stachelbewehrten Ende nach ihren Augen zu schlagen.

Tally hielt das Tier so weit von sich fort, wie sie nur konnte, betrachtete es einen Augenblick lang mit einer Mischung aus Wut und gelindem Interesse und brach ihm dann mit einer raschen Bewegung das Rückgrat. Die Krell-Echse zuckte noch einmal und erschlaffte plötzlich in ihren Händen.

Tally ließ den Kadaver achtlos in den Sand fallen und sah wütend zu Hrhon auf.

»Du blöder Flachkopf!« schrie sie. »Kannst du nicht besser aufpassen? Um ein Haar hättest du mit deinem verdammten Dolch mein Pferd getroffen! Wozu nehme ich euch überhaupt mit? Um mich aufzuschlitzen?« Auf dem geschuppten Reptiliengesicht des Waga war keine Reaktion auf ihre Worte zu erkennen, – was nicht weiter verwunderlich war, dachte Tally mit einer Mischung aus Resignation und Zorn. Wenn man ein Gesicht wie ein fünfzehn Jahre alter Stiefel hatte, den noch dazu ein Mann mit zu großen Füßen getragen hatte, und das davon abgesehen nur aus Knochen und Panzerplatten bestand, war es schlechterdings unmöglich, darauf irgendeine Reaktion zu erkennen. Aber Hrhon zuckte sichtlich zusammen und senkte den Blick. Tallys Wutausbrüche waren selbst bei den Wagas bekannt und gefürchtet. Es wäre nicht das erste Mal, daß sie Hrhon oder Essk absteigen und stundenlang durch den glühenden Wüstensand zu Fuß hinter sich hergehen ließ. Auf der der Sonne zugewandten Seite der Horntiere, selbstverständlich.

Aber diesmal verzichtete sie auf die Bestrafung. Sie waren ihrem Ziel zu nahe, und sie waren zu lange unterwegs gewesen, um jetzt noch Zeit zu verschwenden. Außerdem entsprang ihre Erregung wohl mehr dem Schrecken als wirklicher Angst. Krell-Echsen waren harmlos: gierige kleine Ungeheuer, die einfach alles angriffen, was sich in ihrer Nähe bewegte, und dabei nur allzu leicht vergaß er, daß sie nur wenig größer als eine normale Männerhand waren. Ihre einwärts gebogenen Fangzähne enthielten in winzigen Hohlöhren ein geradezu mörderisches Gift, das im Bruchteil einer Sekunde zu Krämpfen und in weniger als einer Minute zum Tode führte, allerdings einen kleinen Schönheitsfehler hatte: es wirkte nur auf Krell-Echsen. Tally hatte mehr als eines dieser angriffslustigen kleinen Mistviecher gesehen, das sich aus lauter Blödheit selbst gebissen und vergiftet hatte.

Nein – dachte sie spöttisch. Krell-Echsen waren eine glatte Fehlkonstruktion der Natur. Einzig die Tatsache, daß die Gehranwüste einer der unwirtlichsten Flecken der Welt war und es hier so gut wie keine größeren Raubtiere gab, hatte sie bisher davor bewahrt, sich aus purer Dummheit selbst auszurotten.