Sie lenkte ihr Pferd in den Windschatten eines Felsens, wartete, bis Hrhon neben ihr angelangt war und boxte ihn gegen die Schulter, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Waga blinzelte aus trübe gewordenen Augen zu ihr herauf.
»Du wartest hier«, befahl Tally. »Ich gehe nachsehen. Wenn du irgend etwas Verdächtiges bemerkst, dann rufe.«
Hrhon machte eine zustimmende Handbewegung, aber Tally war klar, daß sie ebensogut mit seinem Pferd hätte reden können. Trotzdem lächelte sie aufmunternd, schwang sich mit einer kraftvollen Bewegung aus dem Sattel und landete um ein Haar auf der Nase, als ihre vom langen Reiten und der Kälte verkrampften Oberschenkel mit heftigen Schmerzen auf die Bewegung reagierten. Sie biß die Zähne zusammen, schlug den pelzgefütterten Mantel zurück und zog vorsichtshalber ihr Schwert aus dem Gürtel, ehe sie geduckt in die Höhle trat.
Wärme und der Geruch nach Menschen und Abfällen schlugen ihr entgegen. Im ersten Moment sah sie nichts; denn ihre Augen waren an Sand und eisverkrusteten Fels und Schnee gewöhnt. Sie blieb stehen, tastete sich mit der Linken an der rauhen Felswand entlang und lauschte gebannt.
Aus dem Hintergrund der Höhle drangen Geräusche an ihr Ohr, die nicht hierher gehörten, die sie aber nicht identifizieren konnte. Dann hörte sie Schritte, und aus den ineinander verwobenen Schatten der Höhle schälte sich eine menschliche Gestalt. In ihrer rechten Hand blitzte Metall.
»Wer da?« fragte eine Stimme. Die sonderbare Akustik der Höhle verzerrte sie, aber Tally hörte trotzdem, daß sie einem Mann gehören mußte – und keinem, den sie mögen würde, wenn er so war, wie seine Stimme klang.
»Ich suche Weller«, antwortete sie. »Bist du Weller? «
»Weller?« Der Schatten blieb stehen. Das Blitzen von Metall in seiner Hand glitt ein Stück in die Höhe. Tally spannte sich. »Hier gibt es keinen Weller«, fuhr die Stimme fort. »Wer soll das sein?«
»Ein Idiot, der meine Zeit mit dummen Spielchen verplempert«, antwortete Tally grob. »Ich soll dir Grüße von Sagor ausrichten, Weller. Er sagte, wenn ich einen Weg auf den Schelf hinab suche, der schnell und sicher ist, wäre ich bei dir richtig.«
Der Schatten bewegte sich nicht mehr, aber er antwortete auch nicht, und Tally fügte hinzu: »Ich habe Geld.«
»Ich kann dich hinunterbringen«, sagte Weller. »Aber es ist teuer. Drei Goldheller. Hast du ein Pferd?«
»Zwei«, antwortete Tally. »Und einen Begleiter. Er wartet draußen.«
»Dann acht«, sagte Weller.
»Acht?« Tally ächzte. »Du hast niemals rechnen gelernt, wie? Zweimal drei ist nicht –«
»Neun«, unterbrach sie Weller. »Und wenn du noch lange versuchst, zu feilschen, zehn. Oder sagen wir gleich zehn. Das rechnet sich besser.«
Tally schluckte die wütende Antwort herunter, die ihr auf der Zunge lag, denn sie hatte das sichere Gefühl, daß Weller dieses Spielchen nach Belieben weiterführen würde, bis seine Forderung eine Höhe erreichte, für die sie die Brücke kaufen konnte.
»Das ist ein stolzer Preis«, sagte sie vorsichtig. »Der Brückenzoll beträgt nur einen halben Heller – für zwei Reiter.«
»Wer zu mir kommt, hat seine Gründe, die Brücke nicht zu benutzen«, erwiderte Weller gelassen. »Ich zwinge dich nicht. Dreh um und reite hin.«
Er zuckte die Achseln, kam näher und schob das rostige Schwert in den Gürtel, das er bisher in der Hand gehalten hatte. Tally konnte jetzt sein Gesicht erkennen, und sie sah, daß ihr erster Eindruck richtig gewesen war – Weller war ein sehr kräftiger, vielleicht fünfzigjähriger Mann mit grau gewordenem Haar und kleinen, unangenehm stechenden Augen. Sein Gesicht sah aus, als hätte vor Jahren einmal jemand versucht, es in zwei Teile zu schneiden. Daß er dazu einen ungepflegten schwarzen Vollbart trug, vermochte die Narbe nicht zu verbergen, ließ ihn aber noch wilder und unsympathischer erscheinen – ein Eindruck, vermutete Tally, den er nach Kräften pflegte. Er war ein Riese. Selbst unter dem fellgefütterten Wams, das er trug, zeichneten sich seine Muskeln noch deutlicher ab. Aber er mußte so stark sein, für die Arbeit, die er tat.
Einen Moment lang musterte er Tally durchdringend, dann nickte er und verzerrte sein Gesicht zu einer Grimasse, die er für ein Lächeln halten mochte. »Gut«, sagte er. »Also zehn. Dafür bekommst du und dein Begleiter noch eine warme Suppe und einen Platz an meinem Feuer. Du siehst aus, als könntest du beides gebrauchen.«
Tally überlegte einen Moment. Wellers Angebot klang verlockend. Es war Tage her, daß sie das letzte Mal etwas Warmes zu Essen bekommen hatte. Aber dann schüttelte sie den Kopf. »Ich muß gleich weiter«, sagte sie. »Wir wollen Schelfheim erreichen, ehe es dunkel wird.«
»Daraus wird nichts«, erwiderte Weller ruhig. »In einer Stunde kommt die Nachmittagspatrouille an der Klippe vorbei. Ich nehme nicht an, daß du den Reitern der Garde begegnen willst.«
»Nicht unbedingt«, antwortete Tally. Und warum auch nicht? fügte sie in Gedanken hinzu. Sie hatten zehn Monate gebraucht, um herauszufinden, daß es dieses Stadt überhaupt gab, und weitere vier, um sie zu erreichen. Welche Rolle spielten da noch ein paar Stunden?
»Dann geh und hol deinen Begleiter und die Pferde«, sagte Weller. »Es ist nicht gut, wenn sie zu lange draußen herumstehen. Ich werde derweil das Feuer entzünden.« Ohne ein weiteres Wort drehte er sich herum und verschmolz wieder mit den Schatten der Höhle, und auch Tally ging den Weg zurück, den sie gekommen war, um Hrhon zu holen.
Der Waga war nicht wieder eingeschlafen, wie sie befürchtet hatte, sondern aus dem Sattel gestiegen und schlurfte im Kreis herum, um sich Bewegung zu verschaffen. Als er ihre Schritte hörte, blieb er stehen und drehte sich schwerfällig zu ihr herum. Auf seinem flachen Schildkrötengesicht glitzerte Eis.
Tally erwartete instinktiv, seinen Atem vor dem Gesicht als grauen Dampf zu erblicken, aber sie sah nichts. Die Luft in Hrhons Lungen war so kalt wie die, die sie umgab. Obwohl sie den Anblick gewohnt war, ließ sie der Gedanke schaudern. Zum wiederholten Male fragte sie sich, was es für ein Gefühl sein mußte, wenn das Leben ganz langsam, aber unbarmherzig, im eigenen Körper erlosch.
»Es ist in Ordnung«, sagte sie. »Sagor hat die Wahrheit gesagt. Nimm die Pferde und komm.«
Hrhon griff gehorsam nach den Zügeln und führte die Pferde hinter ihr in den Höhleneingang. Der Rappe scheute, als der Waga ihn in das finstere Loch zerrte, und Tally mußte sich mit einem hastigen Satz in Sicherheit bringen, um nicht von seinen wirbelnden Hufen getroffen zu werden. Aber dann schienen die Tiere die Wärme zu spüren, die aus dem Berg drang, und wehrten sich nicht mehr.
Der Stollen führte überraschend tief in die Erde hinein. Tally schätzte, daß sie sich sicherlich eine halbe Meile weit von der Klippe entfernt hatten, ehe vor ihnen endlich die rote Glut eines Feuers sichtbar wurde. Die Luft war hier von einem unangenehmen, scharfen Geruch erfüllt, den sie nicht einordnen konnte, aber anheimelnd warm, und unter ihren Stiefeln knirschte jetzt kein Eis mehr, sondern nur noch das lose Geröll, das den Höhlenboden bedeckte.
Sie gab Hrhon ein Zeichen, zurückzubleiben, ging ein wenig schneller und fand sich nach zwei, drei Dutzend Schritten in einer gewaltigen felsigen Kuppel wieder, in deren Wände zahllose weitere Gänge mündeten. Plötzlich begriff sie, daß sie sich in einem aufgelassenen Bergwerk befand. Das rote Licht, das sie gesehen hatte, kam nicht nur von Wellers Feuer, sondern auch von mindestens einem Dutzend Fackeln, die in eisernen Haltern an den Wänden befestigt waren. Ihre Schritte erzeugten lang nachhallende, unheimlich verzerrte Echos unter der hohen Decke.
Weller wandte sich zu ihr um, als er sie hörte, und deutete mit einer Kopfbewegung auf einen eisernen Kessel, der über dem Feuer hing. »Die Suppe ist gleich so weit«, sagte er. »Ich habe immer einen Vorrat davon bereit, vor allem im Winter, wenn –« Er brach mitten im Wort ab, starrte aus groß werdenden Augen an Tally vorbei und klappte den Unterkiefer herunter, als er Hrhon erkannte.