»Beim Schlund, laß mich los!« keuschte Weller. Vergeblich versuchte er, Tallys Griff zu sprengen, erreichte damit aber nur, daß sie nun auch noch die andere Hand in sein Wams krallte und ihm fast vollends den Atem abschnürte. »Ich antworte ja, aber wie kann ich das, wenn du mich erwürgst?«
Tally ließ widerstrebend sein Wams los, starrte ihn aber weiter drohend an. Weller richtete sich keuchend wieder auf, fuhr sich mit der Linken über die Kehle und senkte die andere Hand auf das Schwert.
Tally schüttelte ganz sacht den Kopf. »Versuch es nicht«, sagte sie.
»Die Beschreibung, die man mir gegeben hat, stimmt wirklich«, murrte Weller. »Du bist rabiat.«
»Ich glaube, ich habe dir eine Frage gestellt«, erinnerte Tally. Weller starrte sie finster an, kroch ein kleines Stück von ihr zurück und strich abermals mit den Fingern über seine mißhandelte Kehle.
»Sie sind die wahren Herren von Schelfheim«, antwortete er unwillig. »Der Stadthalter und seine Soldaten gehorchen ihnen, auch wenn sie es nicht zugeben wollen.«
»Wieso Töchter des Drachen?« fragte Tally.
»Wieso Tally?« erwiderte Weller böse. »Sie nennen sich eben so. Und sie haben ganz entschieden etwas gegen dich und deinen Freund da. Was glaubst du, woher die Belohnung stammt, die auf deinen Kopf ausgesetzt ist?« Er fluchte. »Ich weiß gar nicht, warum ich mich mit dir abgebe. Ich hätte dich gleich zum Teufel jagen sollen.« Er stand auf und stieß wütend mit dem Fuß ins Feuer, daß die Funken flogen. »Kommt jetzt. Es ist Zeit.«
Die Stunde, von der er zuvor gesprochen hatte, war noch lange nicht verstrichen, aber Tally gehorchte trotzdem. Ihre Gedanken kreisten wie wild um den Namen, den Weller genannt hatte.
Die Töchter des Drachen...
Es konnte Zufall sein, aber wenn, dann war es ein so großer Zufall, daß es ihr schwer fiel, ihn zu akzeptieren. Auf der anderen Seite erschien es ihr unglaublich, daß sie in solcher Offenheit auftreten sollten. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Plötzlich konnte sie es kaum mehr erwarten, nach Schelfheim zu kommen. Vielleicht war sie ihrem Ziel näher, als sie geahnt hatte.
2
Aber bevor es so weit war, wartete noch ein gehöriger Fußmarsch auf sie. Weller verließ die Höhle durch einen der Stollen, die in ihre Wände mündeten, und für eine gute halbe Stunde führte er sie durch ein wahres Labyrinth finsterer, sich kreuzender Gänge und schräger Rampen, die mal nach oben, mal abwärts führten. Sie kam nicht dazu, Weller eine weitere Frage zu stellen, denn er ging so weit und so rasch vor ihnen, daß Tally und Hrhon Mühe hatten, überhaupt mit ihm Schritt zu halten, zumal sie noch die Pferde mit sich führen mußten, denen es gar nicht gefiel, durch pechschwarze Tunnel gezwungen zu werden. Schließlich endete der Marsch in einer zweiten, allerdings sehr viel kleineren Kuppelhöhle.
Der Geruch warnte sie, Augenblicke, bevor sie hinter Weller aus dem Gang trat. Und trotzdem wäre es um ein Haar zur Katastrophe gekommen. Sie spürte die Bewegung, eine halbe Sekunde, bevor Hrhon ein wütendes Zischen ausstieß und sie kurzerhand zur Seite schob; so wuchtig, daß sie gegen die Wand prallte und auf die Knie herabfiel. Weller ließ ein überraschtes Keuchen hören, aber der Waga rannte ihn einfach nieder und stürzte sich mit drohend erhobenen Fäusten auf das schwarzglänzende Chitinbündel, das ihm aus seinen starren Facettenaugen entgegenblickte und gar nicht begriff, wie ihm geschah.
»Hrhon – nicht!« rief Tally verzweifelt. »Hör auf!« Sie konnte nicht genau erkennen, ob Hrhon ihre Worte überhaupt gehört hatte, aber einen Augenblick später hörte sie ein dumpfes, berstendes Geräusch, dem ein pfeifender Schmerzlaut folgte, und die Schatten des Waga und des Hornkopfes verschmolzen zu einem unentwirrbaren Bündel wirbelnder Glieder.
»Hrhon! Zurück!« schrie Tally. Sie sprang auf, stieß Weller, der sich gerade aufrappeln wollte, ein zweites Mal zu Boden, und versuchte Hrhon von seinem Opfer wegzureißen.
Natürlich reichte ihre Kraft nicht aus, den Waga auch nur aufzuhalten, aber ihr Eingreifen brachte ihn wenigstens so weit zur Vernunft, daß er aufhörte, seine geballte Faust immer wieder auf den hornigen Schädel der Termite herunterkrachen zu lassen. Allerdings ließ er den Hornkopf auch nicht los, sondern preßte ihn weiter zu Boden, wobei er ohne sichtliche Anstrengung seine gewaltigen Beißzangen auseinanderbog.
»Verdammt, ist das eure Art, Dankbarkeit zu zeigen?« fragte Weller.
Tally ignorierte ihn. »Bitte, Hrhon, laß ihn los«, sagte sie. »Er gehört nicht zu ihnen.«
Hrhon zögerte. Seine geballte Faust schwebte noch immer über dem Schädel des Hornkopfes, und das trübe Glitzern seiner Augen hatte flammendem Haß Platz gemacht. Seine Lippen zitterten. Dann, ganz plötzlich, war es, als erwache er unversehens aus einem tiefen Schlaf. Verwirrt starrte er auf den Hornkopf herab, stand mit einem Ruck auf und wich zwei, drei Schritte zurück. Auch der Hornkopf erhob sich taumelnd auf seine sechs Beine und kroch ein Stückweit davon.
»Was soll das?« beschwerte sich Weller. Wütend trat er neben Tally, riß sie am Arm herum und zog die Hand hastig wieder zurück, als Hrhon ein drohendes Zischen hören ließ.
»Verzeiht meinem Freund«, sagte Tally, betont ruhig.
»Er mag Hornköpfe nicht. Sie haben seine Frau getötet«, fügte sie hinzu. Sie war verwirrt. Sie verstand und teilte Hrhons Haß auf die insektioden Kreaturen, aber sie hatte ihn noch niemals so unbeherrscht wie jetzt erlebt. »Es tut mir leid.«
»Leid?« Weller spie aus. »Beim Schlund, wenn das deine Freunde sind, möchte ich nicht deine Feinde kennenlernen, Tally! Du wirst nicht weit kommen, wenn er auf jeden Hornkopf losgeht, den er sieht. Es wimmelt in Schelfheim nämlich von ihnen.«
»Ich sagte, es tut mir leid«, erwiderte Tally scharf.
»Hrhon hat die Beherrschung verloren. Der Winter macht ihm zu schaffen. Aber es wird nicht noch einmal geschehen. Und du hättest uns warnen können.«
»Warnen?« Weller schrie fast. »Wovor? Daß ich Arbeiter beschäftige? Du bist wirklich verrückt, Tally. Ich bin froh, wenn ich euch beide Irre los bin.« Wütend fuhr er herum und klatschte in die Hände. Ein zweiter, dritter und vierter Hornkopf krochen schwerfällig in die Höhle, jeder einzelne ein wahrer Gigant, dessen bloßer Anblick Tally schaudern ließ.
Sie sah zu Hrhon hinüber. Der Waga war ein Stück zurückgewichen und musterte die Hornköpfe voller schweigendem Haß. Er wirkte kein bißchen bedrückt oder schuldbewußt, dachte Tally besorgt. Ganz im Gegenteil – sie hatte das sichere Gefühl, daß er sich sehr beherrschte, um nicht ein zweites Mal auf die Hornköpfe loszugehen.
»Was ist in dich gefahren?« fragte sie, so leise, daß Weller die Worte nicht hören konnte. »Es sind ganz normale Hornköpfe! Bist du von Sinnen?«
»Etwasss ssstimmt nissst mhit ihnen«, behauptete Hrhon. »Sssie hasssen unsss.«
»Sie...?« Tally blickte verwirrt auf die vier gigantischen Termiten herab. Der Anblick der chitingepanzerten Ungeheuer bereitete ihr Unbehagen, aber das war normal. Trotzdem war sie für einen Moment nicht sehr sicher, daß Hrhons Behauptung nur seiner Müdigkeit zuzuschreiben war.
»Unsinn«, sagte sie. »Du wirst dich beherrschen, verstanden?«
»Whie ihr bhefhelt, Herrin«, sagte Hrhon – allerdings in einem Ton, der seine Worte Lügen strafte. Seine gewaltigen Pranken bewegten sich, ohne daß er es auch nur merkte. Tally warf ihm einen letzten, mahnenden Blick zu, wandte sich wieder an Weller und deutete auf die Hornköpfe herab. »Wozu brauchst du diese Kreaturen?«
»Um Verrückte wie euch nach unten zu bringen«, antwortete Weller mit einem bösen Blick auf Hrhon. Er schnippte mit den Fingern, woraufhin sich einer der Hornköpfe in Bewegung setzte und schwerfällig auf ein vielleicht drei Meter messendes, kreisrundes Loch zukroch, das im Boden gähnte.