Tally sah erst jetzt, daß sich darüber eine komplizierte, aus zahlreichen Stangen und Zahnrädern und Rollen bestehende Konstruktion erhob, von der eine armdicke Kette in die Tiefe führte. Der Hornkopf griff geschickt mit seinen gewaltigen Zangen nach einem Hebel und begann ihn wie einen Pumpenschwengel auf und ab zu bewegen. Ein Teil des verwirrenden Räderwerkes setzte sich in Bewegung. Die Kette spannte sich. Ein ächzendes Klirren drang aus der Tiefe des Schachtes.
»Das ist also dein kleines Geheimnis«, sagte sie spöttisch. »Ein Aufzug. Vermutlich übriggeblieben, als man diese Mine aufgab.«
»Vermutlich«, knurrte Weller. »Aber er funktioniert nur, wenn jemand da ist, der den Hebel bedient, weißt du?«
Tally tat so, als hätte sie die Spitze überhört, trat an den Rand des Schachtes und beugte sich vor, um in die Tiefe zu sehen. Unter ihr, sehr tief unter ihr, bewegte sich ein glitzerndes Etwas durch den Schacht. Der Anblick ließ sie schwindeln. Sie mußten sich in die Höhe bewegt haben, statt nach unten, wie sie bisher angenommen hatte. Der Schacht war mindestens eine Meile tief. Hastig trat sie ein Stück zurück.
»Ist es stabil genug, Hrhon und die Pferde und mich zu tragen?« fragte sie.
»Keine Ahnung«, sagte Weller ärgerlich. »Der Waga wird allein fahren. Zuerst sind die Pferde dran, dann du.« Er spie zornig aus. »Bei diesem Handel zahle ich drauf!«
Oh ja, dachte Tally spöttisch. Und du weißt noch gar nicht, wie sehr, mein Lieber. Aber sie sagte vorsichtshalber nichts mehr, sondern wartete geduldig, bis der Hornkopf den Aufzug zu ihnen heraufgebracht hatte, was eine gute Viertelstunde in Anspruch nahm. Sie nutzte die Zeit, sich Wellers Maschine in aller Ruhe anzusehen.
Tally hatte zwar nicht das mindeste technische Verständnis, aber sie erkannte doch, daß es sich um eine echt komplizierte Konstruktion handelte; etwas, das weit über Rad und Hebel hinausging, die einzigen technischen Hilfmittel, die die Götter erlaubten. Die Kabine des Aufzuges selbst, die nach einer Weile schaukelnd und ächzend aus dem Schacht auftauchte, bestand zur Gänze aus Metall, das uralt sein mußte, aber nicht die geringste Spur von Rost zeigte.
»Das da kann dir den Hals kosten, weißt du das?« fragte sie.
»So?« Weller blickte provozierend an ihr vorbei.
»Du verstößt gegen die Gesetze der Götter«, sagte Tally. »Wenn sie herausfinden, was du hier tust, dann töten sie dich.«
»Da wo du herkommst, vielleicht. Hier nicht. Unsere Götter sind weniger schlimm. Aber wozu brauche ich Götter, wenn ich Kunden wie euch habe?« murrte Weller. Mit einer herrischen Bewegung scheuchte er den Hornkopf vom Rand des Schachtes weg, trat an den eisernen Käfig und stieß die Tür auf. »Mach schnell«, sagte er. »Ich bin froh, wenn ich euch los bin.« Tally rührte sich nicht von der Stelle.
»Was ist?« fragte Weller zornig. »Willst du hier übernachten?«
»Nein«, antwortete Tally. »Aber ich habe es mir anders überlegt. Deine Gesellschaft bereitet mir solches Vergnügen, daß ich sie noch ein wenig genießen möchte. Hrhon wird als erster fahren.« Sie lächelte zuckersüß. »Immerhin ist er der schwerste von uns, nicht? Und wir wollen nicht, daß deine Freunde ihn vor lauter Erschöpfung etwa fallen lassen.«
Weller preßte wütend die Lippen aufeinander, aber er widersprach nicht, sondern sah schweigend zu, wie der Waga in den metallenen Korb kletterte und die Tür hinter sich zuzog. Auf einen weiteren Wink Wellers hin krochen die Hornköpfe an die Maschine und griffen mit klickenden Zangen nach Hebeln, die Dinge taten, die Tally nicht verstand. Ächzend und stöhnend setzte sich die Kabine wieder in Bewegung und verschwand ganz langsam in der Tiefe.
»Du bist ein verdammt mißtrauisches Weib«, sagte Weller. »Du würdest nicht einmal deiner eigenen Mutter trauen, wie?«
Tally antwortete nicht. Sie war ein weiteres Stück zurückgewichen und sah aufmerksam zu, wie die riesigen Termiten Wellers Maschine bedienten.
Sie hatte Hrhons Worte nicht vergessen, und etwas in ihr sagte ihr, daß sie nicht nur seinem Haß auf die Hornköpfe und seiner Erschöpfung zuzuschreiben waren. Möglicherweise sah sie auch nur Gespenster – wenn man zu lange gejagt wurde, begann man vielleicht hinter jedem Schatten einen Feind und in jeder unbedachten Bemerkung einen Verrat zu wittern. Trotzdem ließ sie die Hand auf dem Schwert liegen und behielt Weller und seine vier Arbeiter aufmerksam im Auge, bis sich die Kette mit einem Ruck entspannte und sie wußte, daß Hrhon heil unten angelangt war.
Eine weitere Viertelstunde verging, ehe die Kabine ein zweites Mal über dem Rand des Schachtes auftauchte. Weller riß wütend die Tür auf, noch ehe sie vollends zur Ruhe gekommen war. »Jetzt die Pferde und du«, sagte er.
Tally schüttelte den Kopf. »Nein.«
Weller wurde noch bleicher, als er ohnehin war.
»Was... was soll das?« fragte er. »Glaubst du, ich hätte meine Zeit gestohlen?«
»Nein, aber ergaunert.« Tally trat einen Schritt auf ihn zu und zog mit einer fast gemächlichen Bewegung das Schwert. »Aber vielleicht hast du recht. Deine hornigen Freunde scheinen kräftig genug, uns beide halten zu können.«
Es dauerte einen Moment, bis Weller begriff. »Uns?« wiederholte er.
»Uns.« Tallys Schwert bewegte sich ein wenig nach oben und deutete nun genau auf seine Kehle. »Du wirst mich begleiten, Weller.«
»Das... das war nicht vereinbart«, stammelte Weller.
»Möglich. Dann ändere ich unsere Vereinbarung jetzt. Vorwärts!« Sie unterstrich ihre Worte mit einer drohenden Bewegung, die Weller rücklings in den Gitterkäfig hineinstolpern ließ, folgte ihm mit einem raschen Schritt und zog die Tür hinter sich zu.
»Und die Pferde?« fragte Weller nervös. Sein Blick irrte unstet zwischen Tallys Gesicht und der Spitze ihres Schwertes hin und her.
»Du kannst sie behalten«, antwortete Tally. »Als Dreingabe, für die Mehrarbeit, meinetwegen. Los jetzt – oder traust du deinen eigenen Freunden nicht mehr?« Weller schluckte sicht- und hörbar, widersprach aber jetzt nicht mehr, sondern klatschte zweimal hintereinander in die Hände. Schaukelnd und klirrend setzte sich der Aufzug in Bewegung.
Kurz, bevor die Kabine vollends in den Schacht sank und die Dunkelheit über ihnen zusammenschlug, sah Tally noch einmal zu den Hornköpfen auf, die mit ihren gewaltigen Körperkräften Wellers Maschine bedienten, und für einen ganz kurzen Moment blickte sie genau in das glatte Horngesicht eines der Ungeheuer.
Was sie sah, ließ sie schaudern. Die faustgroßen Facettenaugen des Hornkopfes waren ausdruckslos wie geschliffene Halbkugeln aus Glas – und doch... Etwas war an diesen Hornköpfen anders als an allen, denen sie bisher begegnet war. Sie wußte nicht was, und ein Teil von ihr versuchte immer noch, sie davon zu überzeugen, daß sie sich von Hrhons Hysterie anstecken ließ. Aber sie war trotzdem überzeugt, daß mit diesen Hornköpfen etwas nicht stimmte.
Die Fahrt in die Tiefe schien endlos zu dauern. Der Gitterkorb schaukelte und schwankte wie ein kleines Boot auf stürmischer See, und mehr als einmal krachte er mit solcher Wucht gegen die Wand, daß Tally fast das Gleichgewicht verlor. Weller wurde zu einem verschwommenen Schatten zwei Schritte vor ihr, und es wurde beständig dunkler, obwohl tief unter ihnen ein heller Fleck von Tageslicht schimmerte.
»Du bist ein verdammt mißtrauisches Weib«, sagte Weller nach einer Weile. Tally konnte sein Gesicht in der Dunkelheit nicht erkennen, aber seine Stimme klang eher beleidigt als wirklich zornig.
»Ich habe genug bezahlt, um es sein zu dürfen«, erwiderte sie. »Außerdem lebe ich noch. Das wäre nicht so, wäre ich nicht so mißtrauisch.«
Weller lachte leise. »Ich werde nicht schlau aus dir, Tally«, sagte er. »Was hast du vor, wenn wir unten sind? Willst du mich erschlagen?«
»Du wirst uns begleiten«, erwiderte Tally. »Nicht sehr weit. Nur bis wir in der Stadt sind.«
»Das würde euch wenig nutzen«, sagte Weller.
»Wieso?«
»Du hast noch nie eine wirklich große Stadt gesehen, wie?« vermutete Weller. »Schelfheim ist groß, und damit meine ich wirklich groß, Tally. Ihr braucht einen Führer, oder ihr seid verloren. Wohin wollt ihr überhaupt?«