Ganz allmählich verlor der Vormarsch der Menge an Schwung, aber das Schreien und Toben ließ nicht nach – ganz im Gegenteil. Mit einem Male war ein neuer Ton im überschnappenden Chor der Menschenmenge, ein Ton, den Tally nur zu gut kannte.
Es ging ganz schnell – aus der panikerfüllten Flucht der Klorschas wurde das Gegenteiclass="underline" ein Angriff. Plötzlich begriff Tally, warum die Hornköpfe auf solch selbstmörderische Art versucht hatten, die Menge aufzuhalten, warum die Häuser hier Festungen glichen und welchem Zweck der halbmeilentiefe freie Streifen zwischen Schelfheim und der Slamstadt dienten. Selbst ihr, die geglaubt hatte, jede nur denkbare Spielart von Gewalt und Kampf zu kennen, fiel es im ersten Moment schwer, zu glauben, was sie sah – aber die Männer und Frauen, die vor Sekunden noch um ihr Leben gerannt waren, begannen einen Augenblick später, die Häuser anzugreifen! Zu Dutzenden versuchten sie, Türen einzurennen, zerrten an den eisernen Fenstergittern oder bildeten lebende Leitern, um die Hausdächer zu erklettern. Einige der niedrigen Gebäude verschwanden regelrecht unter einer Woge zerlumpter Gestalten. Das Splittern von Holz und Glas und gellender Kampflärm mischten sich in das Schreien der Menge.
Hier und da erschienen schattenhafte Gestalten auf den Dächern, die mit langen Stangen die Kletterer zurückstießen oder wahllos Pfeile und Bolzen in die Menge hinabschossen, aber sie wurden hinweggefegt, ebenso wie die Hornköpfe zuvor. Binnen weniger als einer Minute war die erste Häuserreihe überflutet – und der johlende Mob raste weiter.
Eine Hand ergriff sie grob an der Schulter und riß sie zurück. Sie fuhr herum, senkte die Hand auf das Schwert und erkannte Weller, der grimassenschneidend auf eine schmale Gasse zur Rechten deutete und irgend etwas schrie, was im Kreischen der Menschenmenge unterging. Aber Tally verstand auch so, was er meinte. Sie nickte, bedeutete Hrhon mit einer hastigen Geste, ihnen zu folgen, und kämpfte sich mit Fäusten, Knien und Ellbogen hinter Weller her.
Der Angriff der Klorschas erreichte seinen Höhepunkt, als sie hinter Weller in die Gasse stolperte. Eine zerlumpte Gestalt sprang ihnen entgegen. Weller schlug den Mann nieder, zog sein Schwert und tötete einen zweiten Klorscha, der ihn anspringen wollte. Dann erschien Hrhons gigantische Gestalt hinter ihnen in der Gasse, und allein sein Anblick reichte, die restlichen Plünderer Hals über Kopf die Flucht ergreifen zu lassen.
»Wohin jetzt?« fragte sie schweratmend.
Weller sah sich einen Augenblick gehetzt um, deutete dann auf eine Stelle am Fuße der gegenüberliegenden Wand und winkte Hrhon zu sich heran. »Hilf mir!« sagte er. »Schnell. Und du hältst uns den Rücken frei, Tally!« Tally konnte nicht genau erkennen, was Hrhon und er taten – Weller kniete nieder und machte sich an irgend etwas am Boden zu schaffen, dann sah sie, wie Hrhon zugriff und sich mit aller Gewalt gegen einen Widerstand stemmte. Ein entsetzliches Quietschen erscholl, und plötzlich gähnte ein metergroßes Loch im Boden, wo zuvor noch scheinbar massiver Stein gewesen war.
»Schnell!« Weller deutete hastig auf die ausgetretenen Stufen, die unter der Falltür zum Vorschein gekommen waren, sprang selbst als erster in die Tiefe und gestikulierte Tally ungeduldig, ihm zu folgen.
Ein Blick über die Schulter zurück ließ Tallys letzte Hemmungen verschwinden, Weller in die unbekannte Tiefe zu folgen. Auf der Straße tobte eine Schlacht. Mindestens zwei der Steinhäuser standen in Flammen, und das Klirren der Schwerter war jetzt fast lauter als das Brüllen der Klorschas. Über den Köpfen der Zerlumpten tanzten gewaltige, hornige Schädel. Die Stadtgarde hatte offensichtlich Verstärkung bekommen. Tally wandte sich hastig um, folgte Weller und fand sich unversehens in einem winzigen, kaum zwei Meter im Quadrat messenden Raum wieder, dessen Decke so niedrig war, daß sie nur gebückt stehen konnte. Sie hatte einen Stollen oder einen geheimen Keller erwartet, aber es gab nur diesen Verschlag – einen flachgedrückten Würfel, gerade groß genug für einen, allerhöchstens zwei Menschen; offensichtlich eine Art Fluchtkeller, der genau zu dem Zweck angelegt worden war, zu dem sie ihn benutzten; sich im Augenblick der höchsten Gefahr zu verkriechen und einfach zu hoffen, daß man nicht entdeckt wurde.
Und er war ganz entschieden nicht groß genug für zwei erwachsene Menschen und einen Waga. Als sich Hrhon schnaubend die kurze Treppe hinunterquälte und die eiserne Klappe über sich zuschlagen ließ, wurde es unerträglich eng.
»Verdammtes Froschgesicht!« brüllte Weller. »Wer hat gesagt, daß du herunterkommen sollst? Hier ist nur Platz für zwei! «
»Dhann geh dhoch rausss«, antwortete Hrhon ungerührt.
»Oh ihr Götter, was habe ich getan, mit euch Verrückten geschlagen zu sein!« beschwerte sich Weller. »Wir werden hier unten ersticken, wenn uns diese zu groß geratene Schildkröte nicht vorher erdrückt! Sag ihm, daß er rausgehen soll, Tally!«
»Halt endlich den Mund, Weller«, sagte Tally scharf. Sie versuchte vergeblich, in eine halbwegs bequeme Lage zu rutschen – alles, was sie erreichte war, sich den Fuß unter Hrhons Panzer einzuklemmen und den Handrücken blutig zu schürfen. »Verrate uns lieber, wie lange wir in diesem Grab sitzen sollen.«
»Woher beim Schlund soll ich das wissen«, fauchte Weller. Er bewegte sich, wodurch sein Knie noch ein wenig tiefer in Tallys Magengrube hineingetrieben wurde, als es ohnehin schon war. Sie unterdrückte im letzten Moment ein Stöhnen. »Manchmal dauert es Stunden, bis sie sie zurücktreiben. Manchmal auch Tage.«
Tage? dachte Tally entsetzt. Plötzlich erschienen ihr Wellers Befürchtungen, ersticken oder von Hrhon schlichtweg erdrückt werden zu können, nicht mehr ganz so lächerlich wie vor Augenblicken. Sie würde es weder Tage noch Stunden hier drinnen aushalten. Schon jetzt hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Und es war nicht nur Einbildung.
»Verdammt, wir müssen hier raus!« sagte sie. In ihrer Stimme war ein Unterton von Panik, der sie selbst erschreckte. Sie hatte niemals an Klaustrophobie gelitten – aber sie war auch noch nie in einem zwei mal anderthalb Schritte messenden Würfel mit einem Mann und einem vierhundert Pfund schweren Waga eingepfercht gewesen. »Weller – gibt es keinen anderen Weg hier heraus?«
»Nein«, antwortete Weller. »Das heißt...« Er stockte. Tally spürte, wie er versuchte, sich herumzudrehen. Eine rauhe, nach Schweiß riechende Hand tastete über ihre Brust, grabschte nach ihrem Gesicht und fuhr scharrend über die Wand, an der ihr Kopf lehnte. Weller atmete hörbar ein.
»Wir haben Glück«, sagte er. »Vielleicht. Die Wand hier besteht nur aus Lehmziegeln. Dahinter muß ein Keller liegen. Wenn dein plattgesichtiger Freund sie einrammen kann, kommen wir vielleicht raus.«
»Khein Phroblem«, sagte Hrhon. Eine gewaltige Pranke glitt über Tallys Schulter und tastete prüfend über die Steine. »Isss khann nisst risstihg ausssholen, aber esss musss ghehen. Nimm den Khopf nach rhechts, Tally.«
»Rechts für mich oder für dich?« fragte Tally hastig. Hrhon schwieg einen Moment, dann berührte seine Hand Tallys Gesicht ein zweites Mal und drückte ihren Kopf nach links, so weit, daß sie glaubte, ihr Genick würde brechen. Ihr Herz begann wie wild zu hämmern. Sie vertraute Hrhon blind, aber der Verschlag war verflucht eng, und wenn er nicht ganz genau zielte...