»Vorsssicht! «
Tally fand kaum noch Zeit, erschrocken den Atem anzuhalten, ehe Hrhons Faust mit ungeheurer Wucht gegen die Mauer prallte.
Die gesamte Wand erzitterte. Tally spürte die Wucht des Hiebes, als hätte er sie selbst getroffen. Ein dumpfes, fast wie das Stöhnen eines Tieres klingendes Knirschen drang aus der Lehmziegelwand, und dann war plötzlich nichts mehr da, wogegen sich Tally stützen konnte.
Erschrocken griff sie um sich, bekam Wellers Haarschopf zu fassen – und riß ihn mit sich, als sie in den drei Meter tiefer gelegenen Kellerraum hinabpurzelte. Der Aufprall war weniger hart, als Tally befürchtet hatte. Sie überschlug sich einmal in der Luft, prallte auf etwas Weiches, Nachgiebiges und hörte einen erstickten Schrei, ehe sie begriff, daß es Weller war, der ihren Sturz gedämpft hatte. Hastig rappelte sie sich hoch, nahm den Fuß aus seinem Gesicht und tastete im Dunkeln umher, bis ihre Hände auf Widerstand stießen. Hinter ihr waren Geräusche: ein schmerzhaftes Keuchen, dann das dumpfe Poltern und Lärmen eines Menschen, der blind umherstolperte. »Bewegt euch nicht«, sagte Weller. »Irgendwo hier muß eine Fackel sein. Wartet.«
Tally gehorchte, und tatsächlich glomm schon nach wenigen Augenblicken in der Dunkelheit hinter ihr ein winziger roter Funke auf, der rasch zum lodernden Licht einer Pechfackel heranwuchs. Im Widerschein der zuckenden Flammen erkannte sie, daß sie sich tatsächlich in einem mit allerlei Unrat und Gerümpel vollgestopftem Keller befanden. Die Luft war voller Staub, und es roch durchdringend nach schlecht gewordenem Obst.
Hrhon hockte wenige Schritte neben ihr zwischen den Überresten eines Weinfasses, das er mit seinem Körpergewicht zermalmt hatte. Er wirkte ein bißchen benommen. Tally sah, daß seine rechte Hand blutete.
Weller trat auf sie zu, drückte ihr die Fackel in die Hand und deutete auf das fast mannsgroße Loch, das Hrhon in die Wand gebrochen hatte. »Leuchte mir«, sagte er. »Und kein überflüssiges Wort. Wenn wir entdeckt werden, ist es aus.«
Ehe Tally ihrer Verwirrung Audruck verleihen konnte, kletterte er wieder zu dem kleinen Verschlag hinauf, zwängte sich ächzend durch die Mauerbresche und hob etwas vom Boden auf. Tally hob ihre Fackel etwas höher und stellte sich auf die Zehenspitzen, um zu erkennen, was er tat. Weller hatte eine daumendicke Eisenstange zur Hand genommen, die er jetzt durch eine entsprechende Öse in der Metallklappe schob, die ihr Versteck verschloß, und so verkantete, daß es unmöglich war, die Klappe von außen zu öffnen. Trotzdem rüttelte er noch einmal prüfend daran, ehe er sich mit einem zufriedenen Nicken umwandte und wieder zu Tally hinabsprang.
»Aus dieser Richtung folgt uns jedenfalls niemand mehr«, sagte er. »Jetzt bete, daß die Garde hier ist, ehe das Haus fällt.« Er deutete zur Tür. »Mir ist nicht sehr wohl dabei, aber wir sollten uns draußen umsehen. Möglicherweise brauchen wir einen Weg, auf dem wir so schnell verschwinden können, wie wir gekommen sind.«
»Du kennst das Haus nicht?« fragte Tally verwirrt. Weller blickte sie stirnrunzelnd an. »Was bringt dich auf diese Idee? Der Fluchtbunker?« Tally nickte, und Weller fuhr mit einem resignierenden Achselzucken fort:
»Du kommst wirklich aus der Wüste, wie? Fast jedes Haus in Schelfheim hat einen solchen Keller. Es ist manchmal wichtig, schnell den Kopf einziehen zu können. Vor allem hier. Der Stadtrand ist eine ungesunde Gegend.«
Wie um seine Worte zu beweisen, erzitterte das Gebäude über ihren Köpfen in diesem Moment unter einem ungeheuren Schlag. Tally fuhr erschrocken herum und sah, wie irgend etwas mit solcher Kraft am Deckel des Fluchtbunkers zerrte, daß sich die Eisenstange wie weiches Kupfer durchbog. Aber er hielt, und Augenblicke später hörte das Rütteln und Zerren auf. Aber Tally war plötzlich ganz froh, als Weller abermals vorschlug, den Keller zu verlassen und sich im Haus umzusehen.
5
Sie verfolgten das Ende des Dramas vom Dach aus. Das Gebäude hatte leergestanden, wie sie nach einer kurzen, aber gründlichen Untersuchung festgestellt hatten; ein Zufall, der nicht ganz so groß war, wie Tally im ersten Moment angenommen hatte.
Weller hatte ihr erklärt, daß jeder, der seine fünf Sinne noch beisammen hatte, geflohen war, kaum daß die ersten Flammen aus dem Slam züngelten. Die Bewohner der Häuser, um die gekämpft wurde, waren entweder zu langsam oder zu dumm gewesen, der Aufforderung der Stadtgarde Folge zu leisten und die Beine – oder was immer sie benutzten, um sich fortzubewegen – in die Hand zu nehmen und sich tiefer in die Stadt zurückzuziehen, wo sie in Sicherheit waren. Und er war überzeugt, daß die rechtmäßigen Besitzer dieses Hauses nicht vor dem nächsten Sonnenaufgang zurückkehren würden.
Tally hatte nur ein einziges Mal auf die Straße hinuntersehen müssen, um ihm zu glauben.
Rings um sie herum tobte eine Schlacht. Die Klorschas hatten weitere Verstärkung bekommen, und Tally schätzte, daß ihre Zahl auf mindestens vier- oder fünftausend angewachsen war. Aber auch aus der Stadt strömten immer mehr Krieger herbei – Hornköpfe, aber jetzt auch Menschen und nicht-Menschen, die den plündernden Mob gnadenlos angriffen.
Es war zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen, aber das Wenige, was Tally sah, ließ sie erschauern. Es war kein Kampf, sondern ein entsetzliches Gemetzel, bei dem es der Stadtgarde längst nicht mehr darauf ankam, die Klorschas zurückzudrängen. Immer wieder sah sie, wie kleinere oder auch größere Gruppen der Klorschas von den Kampfinsekten der Stadtgarde eingeschlossen und bis auf den letzten Mann niedergemacht wurden. Aber auch die Klorschas wehrten sich mit erstaunlichem Erfolg. Mehr als eine Beterin – die die Hauptmacht der Verteidiger stellten – wurde vor Tallys Augen überrannt und regelrecht in Stücke gerissen, trotz ihrer ungeheuerlichen Körperkräfte. Die Slambewohner schienen eine gewisse Übung darin zu haben, mit den gepanzerten Ungeheuern fertig zu werden.
Trotzdem bestand am Ausgang des Kampfes von vornherein kein Zweifel. Die Klorschas wurden zurückgetrieben, sehr langsam, aber unbarmherzig. Das Haus, in dem sie Zuflucht gesucht hatten, hatte im Zentrum des Kampfes gelegen, aber schon nach einer Stunde bewegte sich die Front der Hornköpfe wieder nach Süden. Und aus der Stadt strömten mehr und mehr der gigantischen Kreaturen herbei.
Schließlich wurde es Tally einfach müde, dem Kampf zuzusehen. Es ging bereits auf den Morgen zu, aber der Wind hatte sich gedreht, und mit dem Brandgeruch verschwand auch die Wärme, die bisher aus der brennenden Abfallstadt herübergeweht war. Tally zog fröstelnd den Mantelkragen enger zusammen, verbarg die Hände unter den Achselhöhlen und trat auf der Stelle, um gegen die lähmende Kälte anzukämpfen, die in ihren Beinen emporkriechen wollte. Sie war müde; eine Nacht ohne Schlaf und die stundenlange Flucht durch die Slamstadt forderten ihren Preis.
Sicher wäre es klüger gewesen, hinunterzugehen und wenigstens noch eine oder zwei Stunden zu schlafen; was Wellers Worten zufolge ohne Risiko möglich gewesen wäre. Aber irgend etwas in ihr sträubte sich gegen den Gedanken, sich jetzt hinzulegen, als wäre nichts geschehen. Was sie sah, machte ihr mehr zu schaffen, als sie sich selbst eingestehen wollte.
Es war nicht nur der Kampf. Schlimmer war der Gedanke, daß alles, was sie sah, zumindest indirekt ihre Schuld war. Sie hatte gehofft, daß sich das Feuer ausbreitete, schon, um den Korschas – und auch der hornköpfigen Garde von Schelfheim – genug Beschäftigung zu verschaffen, die Jagd auf sie und Hrhon für eine Weile zu vergessen. Aber das hatte sie nicht gewollt.
Schritte drangen in ihre Gedanken. Müde drehte sie sich herum, blickte in Wellers bleiches Gesicht und wandte sich wieder der brennenden Stadt zu. Trotz des eisigen Windes spürte sie die Hitze der Flammen wie eine glühende Hand auf ihrer Haut. Die Berge und die Klippe waren hinter einer wabernden schwarzen Wand verschwunden, als hätte das Feuer die Welt dort einfach ausgelöscht.