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Tally versuchte, die Bilder zu verdrängen, die ihre Phantasie zu den Lauten erschuf, aber ganz gelang es ihr nicht – kurz, bevor sie das Haus verlassen hatten, war sie noch einmal auf das Dach hinaufgegangen und hatte nach Westen geblickt, und was sie gesehen hatte, hatte sie schlichtweg mit Entsetzen erfüllt. Die Klorschas waren zurückgedrängt worden, aber die Garde gab sich nicht damit zufrieden, sie aus der Stadt zu scheuchen, sondern versuchte die Slambewohner in die Flammen zurückzujagen; auf dem schmalen unbebauten Streifen zwischen Schelfheim und dem Slam tobte eine Schlacht, die von beispielloser Härte war.

Tally maßte sich kein Urteil an; sie war eine Fremde in dieser Welt und wußte nichts von ihren Regeln und Gesetzen. Aber sie empfand ein tiefes, lähmendes Entsetzen, das mit jedem Augenblick schlimmer wurde. Und sie fühlte sich einsam. Erst jetzt, als sie das Haus verlassen hatten und sich nach Norden bewegten, begriff sie wirklich, wie sehr sie sich Weller ausgeliefert hatte. Hrhon fehlte ihr. Sie war waffenlos und allein, und sie fühlte sich verloren. Wer sagte ihr, daß dies alles nicht ein raffiniert eingefädelter Plan Wellers war, sie von dem Waga zu trennen und die Belohnung einzustreichen, die auf ihren Kopf stand? Tausend Goldheller waren ein Vermögen, selbst in einer Stadt wie dieser.

Die Gelegenheit, Wellers Loyalität auf die Probe zu stellen, kam schneller, als ihr lieb war. Sie waren kaum eine Meile gegangen – in den Folterschuhen, die Tally trug, schienen es allerdings eher zehn zu sein –, als sie auf die erste Patrouille stießen: eine Gruppe waffenstarrender Hornköpfe, die von einem dunkelhaarigen Mann in der gelben Uniform der Stadtgarde angeführt wurde. Tally stockte unwillkürlich der Schritt. Ihre Hand glitt dorthin, wo das Schwert sein sollte, und ertastete nur nutzlosen blauen Stoff. Für eine Sekunde war sie nahe daran, einfach herumzufahren und zu rennen, so schnell sie nur konnte. Ihr Herz begann zu rasen.

»Ruhig«, sagte Weller halblaut. »Ich regele das.« Er hob grüßend die Hand, trat dem Soldaten entgegen und deutete eine Verbeugung an. »Gut, daß wir euch treffen«, sagte er, ehe der Krieger auch nur Gelegenheit zu einem Wort fand. »Sind die Straßen von hier ab sicher?«

Der Soldat blickte ihn schweigend an, drehte betont langsam den Kopf und sah einen Moment schweigend in Tallys Gesicht. Ein fragender Ausdruck erschien in seinen Augen – nicht unbedingt Mißtrauen, aber auch ganz und gar keine Sorglosigkeit. Der Mann schien seine Aufgabe ernster zu nehmen, als Weller annehmen mochte, dachte Tally.

»Wer seid ihr?« fragte er grob. »Zeigt eure Ausweise.« Weller ächzte. »Ausweise? Bist du von Sinnen, Kerl? Wir sind froh, daß wir unsere nackte Haut gerettet haben! Unser Haus ist niedergebrannt, und um ein Haar hätte diese verlauste Bande meine Schwester und mich umgebracht.« Er deutete erregt auf Tally. »Sieh dir das arme Ding an! Sie ist noch immer halb verrückt vor Angst!«

»So?« sagte der Krieger kalt. Er kam näher, schob Weller einfach zur Seite und blieb einen halben Schritt vor Tally stehen. Einer der riesigen Hornköpfe folgte ihm. Ein unangnehmer, metallischer Geschmack breitete sich auf Tallys Zunge aus, als sie dem Blick der gewaltigen Facettenaugen begegnete. Wenn dieses Ungeheuer über die gleichen Fähigkeiten verfügte wie Vakk...

Aber dann drehte der Hornkopf den Schädel und blickte ausdruckslos auf Weller herab. Eine seiner zahllosen Hände begann mit einem mehrschneidigen Schwert zu spielen, das er im Gürtel trug.

»Wie lange braucht ihr noch, um dieses Pack dorthin zurückzutreiben, wo es herkommt?« fuhr Weller erregt fort. »Ich werde mich beim Stadtrat beschweren! Was sind das für Zeiten, in denen man nicht einmal auf die Straße gehen kann, ohne Gefahr zu laufen, erschlagen zu werden?«

Der Krieger seufzte, bedachte Weller mit einem fast mitleidvollen Lächeln und trat kopfschüttelnd zur Seite.

»Ihr könnte passieren«, sagte er. »Aber du solltest zum nächsten Büro des Magistrats gehen und für dich und deine Schwester neue Passierscheine beantragen. Es wird eine Weile dauern, bis ihr in euer Haus zurück könnt.«

Weller starrte ihn noch einen Moment lang böse an, dann ergriff er Tally bei der Hand und zog sie grob mit sich. Die Mauer der Hornköpfe teilte sich, um sie passieren zu lassen, und schloß sich hinter ihnen wieder.

»Das war knapp, wie?« fragte Tally, als sie außer Hörweite waren.

Weller grinste. »Ach was. Wir haben Glück – an Tagen wie heute haben sie einfach nicht genug Leute, jeden gründlich zu kontrollieren, der in die Stadt hinein will. Wenn sie einen Leser dabeigehabt hätten...«

»Was?« fragte Tally.

»Einen Leser«, wiederholte Weller. »Es gibt Hornköpfe, die sofort erkennen, wenn du lügst. Aber sie haben nicht viele davon – den Göttern sei Dank. Mit ein bißchen Glück... «

Er brach mitten im Wort ab, starrte Tally einen Herzschlag lang aus großen Augen an und begann plötzlich zu grinsen wie ein Schuljunge, dem ein besonders boshafter Scherz gelungen war. »Beim Schlund, dieser Hohlkopf hat mich auf eine Idee gebracht«, fuhr er dann fort.

»Mit etwas Glück sind wir schneller bei Karan, als ich bisher gedacht habe.«

»Was hast du vor?« fragte Tally mißtrauisch.

Aber Weller schien ihre Frage gar nicht gehört zu haben. Plötzlich sah er sich hektisch nach allen Seiten um, gestikulierte ihr gleichzeitig, still zu sein, und deutete schließlich nach links. »Dort entlang«, sagte er aufgeregt. »Wenn ich mich richtig entsinne, heißt das. Es ist lange her, daß ich hier war...«

»Was, beim Schlund, hast du vor?« fragte Tally ärgerlich. Sie hatte das ungute Gefühl, daß ihr das, was Weller mit seinen geheimnisvollen Andeutungen meinte, nicht gefallen würde.

Weller antwortete auch diesmal nicht, aber sein Grinsen wurde noch breiter. »Laß dich überraschen, Tally«, sagte er feixend. »In ein paar Minuten sind wir alle Sorgen los – mit etwas Glück.«

»Und mit etwas weniger Glück?« fragte Tally mißtrauisch.

»Sind wir tot«, erwiderte Weller. »Aber keine Sorge – ich habe das Glück gepachtet. Und jetzt schweig. Die Frauen in Schelfheim streiten sich nicht auf der Straße mit Männern. Komm.« Er wies mit einer Kopfbewegung nach links, wo eine etwas schmalere, aber ebenfalls sauber gepflasterte Straße im rechten Winkel abzweigte, und ging los, ehe sie Gelegenheit fand, abermals zu widersprechen.

Sie waren nicht mehr allein auf den Straßen, jetzt, nachdem sie die Sperre hinter sich hatten. Immer mehr Menschen kamen ihnen entgegen, manche in heller Aufregung, die meisten aber so ruhig und gelassen, als wäre nichts Außergewöhnliches geschehen. Hier und da standen Männer in kleinen Gruppen auf der Straße, um erregt miteinander zu diskutieren, und Tally sah auch Männer und Frauen, die auf die Hausdächer gestiegen waren, um das schreckliche Schauspiel von dort aus zu beobachten. Der Großteil der Schelfheimer jedoch schien von dem Brand und der Schlacht, die kaum ein Dutzend Straßenzüge weiter tobte, keinerlei Notiz zu nehmen. Trotzdem waren sie bald so sehr von Menschen umgeben, daß Tally es nicht wagte, Weller noch einmal zu fragen, was er vorhatte. So schluckte sie ihren Ärger herunter, senkte ein wenig den Blick und folgte ihm in zwei Schritten Abstand, wie er es ihr gesagt hatte. Ihre Umgebung begann sich zu verändern, je weiter sie in die Stadt eindrangen. Hatten zuerst noch die wuchtigen, festungsähnlichen Quaderbaue vorgeherrscht, wie Tally sie am Stadtrand gesehen hatte, so wurden die Häuser nun rasch normaler – schon nach weniger als einer Viertelstunde hatte sie zum ersten Male das Gefühl, wirklich in einer Stadt zu sein, und nicht in einer zu groß geratenen Festung. Sie sahen noch immer sehr viele Uniformen, und mehr als einmal tauchte der häßliche Schädel eines Hornkopfes über der Menschenmenge auf, aber niemals kam ihnen einer der Krieger auch nur nahe.