»Oh verdammt, du bist ja noch verrückter, als ich geglaubt habe!« Weller keuchte, als litte er Schmerzen.
»Weißt du überhaupt, wer das war?«
Tally nickte. »Jandhi«, sagte sie. »Das war der Name, mit dem sie ihre Begleiterin ansprach.«
»Jandhi, ja«, schnaubte Weller wütend. »Jandhi san Sar, die heilige Mutter der Töchter des Drachen in Schelfheim. Die Frau, die ihre rechte Hand opfern würde, um dich in die Finger zu bekommen!«
Tally erschrak nicht einmal sehr. Sie hatte geahnt, daß es mit Jandhi und Nirl etwas Besonderes auf sich hatte, und ein Teil von ihr hatte wohl auch gespürt, daß diese Frau mehr als nur irgendeine einflußreiche Persönlichkeit Schelfheims war. Trotzdem spürte sie, wie alle Farbe aus ihrem Gesicht wich. Unter dem Kleid begannen ihre Knie ein wenig zu zittern. »Die... Töchter des Drachen?« wiederholte sie unsicher.
Weller grinste böse. »Ja – und jetzt frag' mich, warum ich so erschrocken war. Beim Schlund – ich habe mich schon auf dem Schafott gesehen, als du mit den beiden hereingekommen bist.«
»Na, dann sind wir ja quitt«, sagte Tally spitz. Ihr Schrecken schlug in Zorn auf Weller um. »Deine Idee, einfach so in die Kommandantur zu spazieren und dir einen Passierschein geben zu lassen, war ja wohl auch nicht so gut.«
»Unsinn!« fauchte Weller. »Ich war dabei, mit diesem Narren über die Höhe des Bestechungsgeldes zu verhandeln, als du hereingeplatzt bist. Jetzt ist er zornig und wird uns Ärger machen, wo er nur kann.«
Tally sah ihn scharf an. Sie wußte nicht, ob Wellers Behauptung nun eine Lüge war oder der Wahrheit entsprach. Vielleicht vertrug er es einfach nicht, daß sie recht hatte; der Typ dazu schien er zu sein.
»Ein Grund mehr, zu tun, was Jandhi vorgeschlagen hat«, sagte sie schließlich. »Du weißt, wo dieser Trägerstand ist?«
Weller nickte wütend, drehte sich auf der Stelle herum und wollte losstürmen. Aber sie hatten noch keine drei Schritte getan, als hinter ihnen eine helle Stimme rief:
»Nora, Weller! Wartet!«
Als Tally sich herumdrehte, erkannte sie Jandhi, die mit weit ausgreifenden Schritten auf sie zueilte. Von ihrer jüngeren Begleiterin war keine Spur zu sehen, aber hinter ihr traten gleich fünf Soldaten aus dem Haus und scheuchten die Wartenden beiseite.
»Das ist das Ende«, flüsterte Weller. »Sie hat endlich gemerkt, wer du bist. Warum habe ich dich nicht in den Schacht geworfen, ich Narr!«
Tally ignorierte seine Worte. Gebannt blickte sie Jandhi entgegen, die beinahe im Laufschritt auf sie und Weller zukam, dicht gefolgt von den Kriegern der Stadtwache. Sie wußte, daß ihre Chancen praktisch gleich null waren, einen Kampf mit diesen Männern zu bestehen, waffenlos und in der unpraktischen Kleidung, die sie trug. Trotzdem spannte sie die Muskeln. Wenn sie schon sterben mußte, würde sie wenigstens einen oder zwei von ihnen mitnehmen – und Jandhi zuallererst.
»Gut, daß ihr noch da seid«, sagte Jandhi. »Du hast etwas vergessen, Kind. Hier!« Sie griff unter ihren Mantel. Als sie die Hand wieder hervorzog, blitzte das gewaltige Silberschwert des Katzers darin.
Weller erbleichte noch ein bißchen mehr, als er die Klinge sah, und wie zur Antwort blitzte es in Jandhis Augen spöttisch auf. »Das ist für dich«, sagte sie, hielt die Klinge aber Tally hin, die zögernd und mit zitternden Fingern danach griff.
»Für... mich?« wiederholte Weller.
»Bedank dich bei deiner Schwester«, sagte Jandhi. »Sie hat es gekauft, um dir eine Freude zu machen. Dabei hättest du es eher verdient, daß man dir das Ding über den Schädel schlägt.« Sie lachte, trat einen Schritt zurück und maß Weller mit einem sehr strengen Blick.
»Behandle das Kind gut, Weller«, sagte sie. »Ich werde mich nach euch erkundigen. Und wenn ich höre, daß Nora ein Leid geschehen ist, ziehe ich dich persönlich zur Verantwortung.«
Damit ging sie. Aber Weller starrte noch lange Zeit mit offenem Mund in die Richtung, in der sie verschwunden war.
Er sprach kein Wort mehr mit Tally, bis sie den Trägerstand erreicht hatten.
7
Der Träger war eine Überraschung. Tally hatte mit einem Wagen gerechnet, vielleicht einer Art Rikscha, wie sie in den kleineren Städten im Westen benutzt wurden, durch die sie gekommen war; nach allem, was sie bisher in Schelfheim erlebt hatte, vielleicht sogar mit einer Maschine – denn wo die Götter selbst regierten, da schienen sie es mit ihren eigenen Gesetzen nicht ganz so ernst zu nehmen. Aber er war nichts von alledem. Es war ein Hornkopf, ein gigantisches Käferding, zwei Meter hoch und fast doppelt so lang, mit sechs spinnenartig geknickten Beinen und einem häßlichen, stachelgekrönten Schädel.
Tally blieb erschrocken stehen, als sie sich durch die Menschentraube gekämpft hatten, die den Trägerstand umlagerte, und sie das Ungeheuer erblickte. Ihr instinktiver Widerwille gegen Hornköpfe wurde für einen Moment so übermächtig, daß sie um ein Haar herumgefahren und schlichtweg davongelaufen wäre. Vielleicht hätte sie es sogar getan, wäre sie nicht derart in der Menschenmenge eingekeilt gewesen, daß sie sich gar nicht mehr bewegen konnte.
Weller befahl ihr überflüssigerweise, stehenzubleiben und auf ihn zu warten, zog den Passierschein unter dem Wams hervor und ging auf den Trägerführer zu, der ihm feindselig entgegenblickte.
Tally konnte nicht hören, was sie sprachen, aber Jandhis Name schien auch hier Wunder zu wirken. Der Führer erbleichte sichtlich, starrte Weller eine Sekunde lang mit einer Mischung aus Haß und Furcht an und fuhr dann auf dem Absatz herum. Weller winkte ihr ungeduldig, neben ihn zu treten.
Tally wollte gehorchen, aber eine Hand hielt sie am Arm zurück. Ärgerlich fuhr sie herum, blickte in ein breitflächiges, vor Zorn gerötetes Gesicht und erinnerte sich im letzten Moment daran, daß sie die verschreckte kleine Schwester eines verweichlichten Städters spielte. Der Mann, der sie und Weller abwechselnd wütend anstarrte behielt seine Zähne.
»Was soll das?« ereiferte er sich. »Wir stehen seit Stunden hier! Was fällt euch Pack ein, euch vorzudrängen?«
»Fragt meinen Bruder, Herr«, antwortete Tally kleinlaut. »Er hat ein Stück Papier. Ich weiß nichts davon.« Der Mann schnaubte, ließ ihren Arm los, versetzte ihr aber in der gleichen Bewegung einen Stoß, der sie geradewegs in Wellers Arm taumeln ließ. »Das werden wir sehen!« brüllte er. »Es geht hier der Reihe nach, oder –« Er brach mitten im Satz ab, wurde bleich und starrte aus hervorquellenden Augen auf die Schwertspitze, mit der Weller ihn in die Nase piekste.
»Wenn du Ärger suchst, Kerl«, sagte Weller lächelnd, »dann kannst du ihn haben. Oder vergreifst du dich prinzipiell nur an wehrlosen Frauen?«
Der Bursche schluckte ein paarmal. Aber er schien nicht ganz so feige zu sein, wie Weller annahm, denn er wich zwar einen Schritt zurück, hob aber gleich darauf wieder zornig die Fäuste. »Damit kommt ihr nicht durch!« sagte er. »Wir alle warten seit Stunden auf einen Träger! Ihr habe euch in der Reihe anzustellen wie alle!« Weller kam nicht dazu, zu antworten, denn in diesem Moment kam der Führer zurück, schlug sein Schwert mit der flachen Hand herunter und baute sich drohend zwischen ihm und dem Mann auf, der Tally gestoßen hatte.
»Was geht hier vor?« fragte er. »Ich dulde keinen Streit an meinem Stand.«
»Wieso läßt du sie vor?« beschwerte sich der Schelfheimer. »Wir alle warten seit Ewigkeiten hier, und jetzt –«
»Und jetzt kommt einer, der in Jandhis Namen spricht«, unterbrach ihn der Führer. »Was soll ich machen? Ihn zurückschicken und meine Lizenz verlieren, Kerl?«
Er spie ärgerlich aus, aber Tally hatte das Gefühl, daß diese Geste wohl eher ihr und Weller galt als dem Mann.
»Du hast die Wahl«, fuhr er fort. »Du kannst dich einige Augenblicke länger gedulden, oder es darauf ankommen lassen, daß diese beiden mit der Garde wiederkommen und meinen Laden dichtmachen. Dann kannst du zu Fuß gehen – ist dir das lieber?«
Der Mann widersprach nicht mehr. Aber sein Zorn war keineswegs verflogen – und er war nicht der einzige, der Weller und Tally voller kaum mehr verhohlenem Haß anstarrte. Wohin sie auch sah, blickte sie in zorngerötete Gesichter. Hier und da wurden sogar Fäuste geschüttelt. Verwünschungen wurden laut. Einige galten Weller und ihr, anderen den Töchtern des Drachen oder der Stadtgarde.