Weller fehlte, und als Tally sich setzte, fiel ihr auch auf, daß nur drei Gedecke aufgetragen waren. Auf ihre entsprechende Frage hin erklärte Karan einsilbig, daß er sich verabschiedet habe, um zu seinem Versteck in der Klippe zurückzukehren. Tally kam diese Antwort ein wenig sonderbar vor, nach allem, und auch Jan sah einen Moment auf, als wolle er etwas ganz anderes sagen, beließ es dann aber bei einem wortlosen Achselzucken und konzentrierte sich wieder ganz auf sein Essen. Der Himmel über dem Schlund begann sich dunkel zu färben, während sie aßen, und nach einer Weile begann es tief unter ihnen zu wetterleuchten; Tally glaubte ein sehr weit entferntes, aber auch sehr machtvolles Grollen zu hören. Wenn Karan die Wahrheit gesagt hatte, dachte sie schaudernd, dann mußten die weißen Flecken dort unten, die sich jetzt grau gefärbt hatten, Wolken sein. Die Vorstellung, sich eine oder auch mehrere Meilen über einem Gewitter zu befinden wie ein bizarrer Gott auf einem noch bizarreren Thron, ließ sie schaudern.
»Du hast nachgedacht über das, was dir Karan gesagt hat«, sagte Karan plötzlich.
Tally fuhr erschrocken zusammen und begriff, daß sie in die Leere hinausgestarrt hatte, ohne es überhaupt zu bemerken. Sehr lange. Sie nickte.
»Aber du willst noch immer gehen«, fuhr Karan fort. Tally nickte abermals, schwieg aber weiter.
»Auch Karan hat nachgedacht«, sagte Karan plötzlich.
»Über das, was du ihm gesagt hast. Und über das, was ihm sein Sohn berichtete.«
Tally sah mit einer Mischung aus Schrecken und Zorn zu Jan hinüber. Sie hatte keinen Grund – schließlich war es nur natürlich, daß Jan seinem Vater von dem Zwischenfall vor Beits Quartier erzählt hatte – aber sie nahm es ihm übel wie eine persönliche Beleidigung. Es war ihr peinlich, ohne daß sie selbst sagen konnte, warum.
»Du bist fremd in dieser Welt«, fuhr Karan fort, als sie keinerlei Anstalten machte, das Gespräch von sich aus fortzusetzen. »Du kommst aus dem Süden, aus den Ländern jenseits der großen Wüste. Der Schelf ist eine fremde Welt für dich. Du verstehst nichts. Du begreifst nichts. Alles erschreckt dich. Dabei ist er ein Stück deiner Welt. Wenn du nicht einmal hier leben kannst, wie kannst du es dann im Schlund?«
Tally sah ihn scharf an, schwieg aber weiter.
»Aus diesem Grund«, sagte Karan, »hat Karan beschlossen, dir nicht zu helfen. Er wird dir den Weg nicht zeigen. Es wäre dein Tod.«
»Und wenn ich dich zwinge?« fragte Tally ruhig. Jan spannte sich, aber sein Vater brachte ihn mit einer raschen, fast nicht wahrnehmbaren Bewegung zur Ruhe.
»Wie?« fragte er.
»Ich könnte dich töten, wenn du es nicht tust«, sagte Tally.
Karan lächelte. »Nein«, sagte er. »Das würdest du nicht tun.«
»Bist du sicher?«
»Karan ist sicher«, antwortete Karan. »So sicher, daß er dich bittet, noch einige Tage hier bei ihm zu bleiben.«
»Warum sollte ich das tun?« fragte Tally zornig. »Ich habe genug Zeit verloren.«
»Um dich zu erholen«, antwortete Karan. »Dein Körper braucht Ruhe. Und du weißt viele Dinge, die Karan interessieren. Du könntest mit ihm reden. Er lebt von Informationen.«
Tally dachte an das leichenhäutige, sabbernde Ding draußen in seinem Verschlag. Ganz leicht wurde ihr übel. Oh ja, sie konnte sich vorstellen, daß Karan von Informationen lebte. Jetzt, wo sie wußte, wo er sie unterbrachte.
»Er bezahlt gut«, fuhr Karan fort. »Wissen gegen Wissen.«
»Wissen gegen Wissen?« Tally schnaubte. »Was könntest du mir bieten, alter Mann? Das, was ich von dir will –«
»Kein Wissen über den Schlund«, unterbrach sie Karan. »Doch sonst alles. Viel, was wertvoll für dich sein kann. Bedenke, wie Jan dich fand. Fast wärest du gestorben, aus reiner Unwissenheit. Vielleicht ist Karans Sohn das nächste Mal nicht da, um dir beizustehen. Der Weg zurück in deine Heimat ist weit und voller Gefahren. Karan kennt andere Wege.«
Tally überlegte einen Moment. Ganz impulsiv hatte sie eher Lust, Karan den Rest ihrer Mahlzeit ins Gesicht zu schütten, als ein Geschäft mit ihm einzugehen. Aber sie brauchte ihn, ihn und sein Wissen. Und er hatte recht. Ohne Jan wäre sie vielleicht so lange ziellos durch die Stadt geirrt, bis Angellas Männer sie geschnappt und getötet hätten. Im Grunde, dachte sie niedergeschlagen, war ihre Reise nach Schelfheim zu einem Fiasko geworden, einer Flucht, die in der ersten Minute begonnen und bis jetzt nicht wirklich aufgehört hatte, und...
... und plötzlich wußte sie, was sie tun mußte. Der Gedanke überfiel sie mit solcher Wucht, daß sie an sich halten mußte, ihn nicht vor lauter Verblüffung gleich auf der Stelle laut auszusprechen. Oder zu hastig in die Tat umzusetzen. Und er war so einleuchtend, daß sie sich fragte, warum beim Schlund sie zwei volle Tage gebraucht hatte, darauf zu kommen.
Gezwungen ruhig wandte sie sich an Jan. »Dieses Mädchen«, begann sie. »Angella...«
Jan sah auf. »Mädchen?« fragte er mit gerunzelter Stirn. »Ich wüßte eine Menge Bezeichnungen, die besser auf sie passen.«
Tally schnitt ihm das Wort mit einer ungeduldigen Geste der Hand ab. »Sie lebt«, sagte sie. »Stimmt das?« Jan nickte. Er wirkte betrübt. »Ich fürchte, ja«, antwortete er. »Du hättest gründlicher zustoßen sollen; am besten ein dutzendmal. Mein Vater hat vollkommen recht – du bist tot, wenn du dieses Haus verläßt. Angellas Männer durchsuchen die ganze Stadt. Und wenn sie dich finden, wirst du dir wünschen, niemals geboren zu sein.«
»Ich kann nicht hierbleiben, bis sie an Altersschwäche stirbt«, sagte Tally.
»Natürlich nicht. Die Aufregung wird sich legen. Wahrscheinlich schon in ein paar Tagen. Aber im Moment wäre es gefährlich für dich, dich draußen sehen zu lassen. Für uns übrigens auch«, fügte er hinzu. »Sie ist nachtragend, weißt du? Wenn sie erfährt, daß wir dir geholfen haben...« Er sprach nicht weiter, sondern fuhr sich bezeichnend mit dem Zeigefinger an der Kehle entlang und grinste.
Tally tat so, als dächte sie einen Moment lang angestrengt nach. Dann nickte sie. »Vielleicht habt ihr recht«, sagte sie. »Aber ich bin nicht allein. Hrhon wird nervös werden, wenn er nichts von mir hört.« Karan schwieg, und Tally fügte hinzu: »Er könnte beginnen, sich Sorgen um mich zu machen. Oder gar glauben, daß ich in Gefahr bin. Hast du schon einmal einen wütenden Waga erlebt, Karan?«
»Kein Fischgesicht betritt Karans Haus«, sagte der Alte.
»Das ist auch nicht nötig«, sagte Tally rasch. »Vielleicht könnte Jan ihm eine Nachricht überbringen?«
»Warum nicht?« Jan zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht genau, wo er ist, aber ich werde ihn finden. Wagas sind selten hier. Sie fallen auf. Was soll ich ihm sagen?«
»Es würde nicht viel nutzen, ihm etwas zu sagen«, sagte Tally. Sie zögerte einen ganz kurzen Moment. Karan war nicht dumm. Sie mußte vorsichtig sein. Ein falsches Wort, und sie verspielte ihre letzte Chance. »Er würde denken, du lügst«, fuhr sie fort. »Er würde dir nicht glauben. »Ich... muß beweisen, daß es mir wirklich gut geht.«
»Und wie?« Jan sah sie an, sehr aufmerksam, aber ohne die geringste Spur von Mißtrauen.
»Ich werde dir eine schriftliche Nachricht für ihn mitgeben«, sagte Tally. »Nur ein paar Zeilen, die beweisen, daß ich lebe und nicht gefangen gehalten werde. Und es wäre gut, wenn du sie ihm bald bringst«, fügte sie hinzu.
»Bevor er auf die Idee kommt, selbst hierherzukommen und nachzusehen, wie es mir geht.«
Jan stand auf. »Ich hole Papier und Feder«, sagte er.
6
Tally verschlief den halben Nachmittag, aber als sie erwachte – es begann bereits dunkler zu werden –, fühlte sie sich müder als zuvor. All die kleinen Verletzungen und Wunden aus dem Kampf mit Angella und ihren Männern (und vor allem die, die sie sich selbst beim Sprung durch das Fenster zugezogen hatte – es waren mehr) schmerzten jetzt heftiger als am Vortage. Sie konnte ihren Arm kaum bewegen. Als sie aufstand und zu Karan und seinem Sohn zurückging, fühlte sie sich wie eine alte Frau.