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Karan hatte recht gehabt, dachte sie matt. Es würde noch Tage dauern, ehe sie sich auch nur halbwegs wieder erholt hatte. Einen zweiten Kampf wie den mit Angella würde sie nicht durchstehen.

Das Abendessen verlief so einsilbig wie das zum Mittag. Jan war nicht da, und Karan, der ganz genau zu spüren schien, wie wenig Tally nach Reden zumute war, bemühte sich nach Kräften, sie zu ignorieren. Als sie fertig waren, verließ er wortlos das Zimmer, und Tally war allein.

Die Dunkelheit kroch in den Raum. Es war das erste Mal, daß Tally einen Sonnenuntergang über dem Schlund beobachtete, und es war ein grandioser Anblick: grandios, aber auch erschreckend, weil er ihr deutlich machte, wie winzig und unwichtig sie war.

Die Wolken, über denen Karans Haus schwebte, begannen sich ganz allmählich grau, dann schwarz zu färben. Tally konnte beobachten, wie das Licht erlosch, fünf oder mehr Meilen unter ihnen, während der Himmel darüber noch von strahlendem Blau war. Fünf Meilen unter ihr, in der Welt unter der Welt, unter einem Himmel, der seinerseits von einem zweiten Himmel überspannt wurde, war bereits Nacht.

Die Vorstellung verwirrte Tally. Sie hatte das, was Karan ihr erzählt hatte, längst noch nicht in letzter Konsequenz begriffen, und vielleicht würde sie es niemals. Sie fragte sich, ob es dort unten denkendes Leben gab, und wenn ja, ob es die Titanenklippe, die seine Welt an allen Seiten umschloß, wohl mit der gleichen Ehrfurcht betrachtete wie die Bewohner des Hochlandes den Schlund.

Die Vorstellung ließ sie schwindeln – eine Wand, die eine ganze Welt umschloß, an allen Seiten, so hoch, daß der Blick ihr Ende nicht erreichen konnte. Sie kam sich klein vor, vollkommen unwichtig. Was sie tun wollte, war so lächerlich. Welche Rolle spielte es, ob sie lebte oder nicht?

Sie spürte einen schwachen Anflug von Zorn; denn sie begriff, daß Karan ihr wohl all dies aus genau jenem Grund erzählt hatte: damit sie diese Gedanken dachte und vielleicht in letzter Konsequenz von ihren Plänen abließ.

Sie stand auf. Sie war müde genug, sich auf der Stelle wieder niederlegen und weiterschlafen zu können, aber sie wollte es nicht. Zeit war kostbar.

Auf der anderen Seite – was konnte sie tun? Hier herumsitzen und sich selbst zerfleischen? Oder mit Karan reden, was nichts weiter als neuerliche Enttäuschung einbringen mußte?

Dann fiel ihr ein, daß es noch jemanden gab, mit dem sie reden konnte. Auch diese Vorstellung erfüllte sie nicht unbedingt mit Freude, aber vielleicht war es besser, als hier zu sitzen und zu warten, bis Karans Gift wirkte. Sie stand auf, ging zu Beit zurück und starrte den verkrüppelten Erinnerer fast fünf Minuten lang wortlos an, ehe sie sich so weit überwinden konnte, auf ihn zuzutreten und die Hand auf seine Schulter zu legen, wie sie es bei Jan gesehen hatte.

Die Augen des Erinnerers öffneten sich langsam. Sein Gesicht verzog sich zu dem schon bekannten, schrecklichen Idiotenlächeln, aber sein Blick blieb klar.

»Ich bin Tally«, sagte Tally. »Du erkennst mich? Antwort.«

»Tally«, wiederholte Beit. »Frageberechtigt bei allen Informationen, die nicht ausdrücklich dem Bereich geheim unterliegen.«

Tally schauderte. Beits Art zu sprechen entsetzte sie. Sie hatte das Gefühl, mit einer Maschine zu reden. Aber vor ihr saß ein lebender Mensch. Trotzdem schob sie ihre Hemmungen beiseite, setzte sich etwas bequemer hin und begann:

»Der Schlund, Beit. Alle Informationen. Antwort.«

»Informationen unterliegen zum Teil der Geheimhaltung«, antwortete Beit.

»Dann die, die du herausgeben darfst«, sagte Tally. Als Beit nicht reagierte, fügte sie hinzu: »Antwort.«

»Der Schlund«, begann Beit. »Volkstümlicher Begriff für den Rand des ehemaligen Kontinentalschelfs. Mittlere Höhe dreieinhalb Meilen, größte bekannte Tiefe sieben Meilen. Auf seinem...«

Und Beit erzählte. Er sprach eine Stunde lang, ohne zu stocken, und das allermeiste von dem, was Tally hörte, bestand aus unverständlichen Zahlen und Begriffen. Begriffen aus einer Wissenschaft, die so tot war wie die Völker, denen sie gedient hatte, Zahlen aus einer Mathematik, von der Tally niemals gehört hatte. Sie verstand wenig, nichts von den Daten und Maßen, die Beit hervorsprudelte, und wenig von den Fakten; noch viel weniger von dem, was sich aus dem Gehörten ergeben mochte. Aber was sie verstand, erschreckte sie zutiefst. Vielleicht, weil es so viel war. Für sie – wie für fast alle Menschen und nicht-Menschen – war der Schlund ein Geheimnis, das größte und düsterste Mysterium der Welt. Die Hölle. Niemand wußte etwas darüber.

Aber das Wissen war da. Und es war nicht einmal geheim. Jan hatte Beit ja in ihrem Beisein verboten, ihr irgendwelche Geheimnisse anzuvertrauen, und Tally hatte es nicht vergessen. Das war es, was sie am meisten entsetzte: das Große Geheimnis war keines. Es lag da, offen und für jedermann greifbar – und doch schien es, als interessiere sich niemand wirklich dafür.

Länger als eine Stunde hörte Tally dem Erinnerer zu, und selbst als sie sich schließlich erhob und Beit mit einem scharfen »Abbruch« zum Verstummen brachte, schien er noch lange nicht am Ende seines Wissens angekommen zu sein.

Aufs tiefste verwirrt zog sie sich in ihr Zimmer zurück und legte sich angezogen aufs Bett. Zwei Stunden nach Sonnenuntergang, hatte in ihrem kurzen Brief an Hrhon gestanden. Sie hatte keine Möglichkeit, die Zeit zu messen – was ihr wie eine Stunde vorgekommen war, mochte viel länger, aber auch viel kürzer sein. Aber so oder so konnte nicht mehr allzuviel Zeit vergehen, bis der Waga kam.

Tally lächelte in stummer Vorfreude auf die unangenehme Überraschung, die sie sich für Karan und seinen Sohn ausgedacht hatte. Die Töchter des Drachen waren nicht die einzigen, die sich auf das Spinnen von Intrigen verstanden.

Aber als dann plötzlich unter ihr im Haus Lärm laut wurde, da war es nicht der Waga, der kam, sondern Weller. Sie erkannte seine Stimme, noch ehe sie die Treppe hinunter und ins Kaminzimmer geeilt war, und obwohl sie die Worte nicht verstand, spürte sie doch die Aufregung, die aus ihnen sprach.

Als sie ins Zimmer trat, verstummte Weller mitten im Wort und sah sie mit einer sonderbaren Mischung aus Zorn und Schrecken an. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, und sein Atem ging sehr schnell. Tally begriff, daß er über eine lange Strecke hinweg gelaufen sein mußte.

Ganz instinktiv sah sie auch Jan und dessen Vater an. Karans Gesicht wirkte wie eine Maske aus Falten und grauem Stein, wie immer, aber auf Jans Zügen war deutliche Bestürzung abzulesen; wenn auch keine Sorge oder gar Angst. Welche Botschaft Weller auch immer brachte, dachte Tally, sie hatte Karan und seinen Sohn überrascht, aber nicht erschreckt.

»Was ist geschehen«, begann sie übergangslos.

»Das fragst du?« Weller schnaubte. »Die halbe Stadt steht Kopf«, fuhr er zornig fort. »Deinetwegen. Sie suchen dich überall. Die Belohnung ist verdoppelt worden. Jandhi selbst leitet die Suchtrupps.«

»Und deshalb bist du zurückgekommen?« fragte Tally spöttisch. »Willst du dir die Belohnung verdienen, oder mich warnen? Das eine ist nicht möglich, das andere nicht nötig.«

Weller machte eine ärgerliche Handbewegung. »Hör endlich auf, die Naive zu spielen«, sagte er. »Ich...« Er brach ab, seufzte, und ließ sich schwer auf einen Stuhl sinken. Auf einen Wink Karans hin brachte Jan ihm einen Becher Wein, den er mit tiefen, gierigen Zügen leerte. Erst dann sprach er weiter.

»Es ist schlimmer, als du denkst, Tally«, sagte er ernst.

»Sie wissen alles. Ich mietete mir einen Träger, um zurückzureiten, aber ich bin nicht einmal bis zur Hälfte gekommen. Sie suchen dich – und sie suchen auch mich. «