»Manchmal«, sagte Tally ernst, »fährt es in das Bein dessen, der es schwingt.«
»Nur wenn er ungeschickt ist.« Karan machte eine abschließende Geste. »Wir würden auch nicht hier bleiben, wenn Nors es uns anböte«, fuhr er in verändertem Tonfall fort. »Eine Stunde Rast, vielleicht auch zwei, und ein wenig Nahrung, das ist alles, was Karan von ihm verlangt.« Er drehte sich herum, nahm auf einem der unbequemen Hocker Platz und sah demonstrativ zu Boden.
Nach einer Weile kam Nors zurück. Er war nicht mehr allein, sondern befand sich in Begleitung einer ältlichen, ebenfalls sehr hochgewachsenen Frau, die sich so krumm wie er hielt. Die beiden trugen Wein und Brot und sogar ein Tablett mit rohem Fleisch auf, das sie Hrhon vorsetzten. Dann zog sich die Frau zurück, während sich Nors mit vor der Brust verschränkten Armen gegen die Tür lehnte und ihnen stumm beim Essen zusah.
Tally brannten tausend Fragen auf der Zunge. Aber sie hatte das sehr sichere Gefühl, daß es besser war, Karan reden zu lassen. Nors hatte Angst. Panische Angst. Karan tunkte sein letztes Stück Brot in eine Schale mit kalter, nach Tallys Meinung widerwärtig schmeckender Soße, kaute beides mit sichtlichem Genuß durch und fuhr sich mit der Hand über den Mund, ehe er sich wieder an Nors wandte.
»Nun erzähle, Freund«, begann er. »Was ist geschehen, daß du solche Angst hast, Karan die Freundschaft zu verweigern, auf die er Anspruch hat?«
Nors lächelte nervös. »Du... du hast nichts gehört?«
»Karan hatte anderes zu tun, als zu hören«, erwiderte Karan lächelnd. »Er wurde angegriffen und mußte fliehen. Sie haben die heiligen Gesetze der Gastfreundschaft gebrochen.«
»Sie werden noch etwas ganz anderes brechen, wenn sie dich in ihrer Begleitung finden.« Nors deutete anklagend auf Tally. »Zum Beispiel deinen Hals, Karan. Sie suchen euch überall.«
Tally spannte sich, aber Jan legte ihr rasch und beruhigend die Hand auf den Unterarm. Tally schwieg.
»Erzähle«, sagte Karan noch einmal.
»Sie durchsuchen die ganze Stadt«, sagte Nors. »Männer der Garde, und diese verdammten Hornköpfe.«
»Unmöglich!« behauptete Weller. »Das würden sie nicht wagen! Keiner von ihnen würde lebend hier herauskommen!«
»Und wenn ich dir sage, daß zwei dieser Speichellecker vor Stundenfrist bei mir waren, und nach Karan und euch gefragt haben?« sagte Nors. Wütend preßte er die Lippen aufeinander, sah Karan an und deutete mit einer Geste auf Tally und Hrhon. »Kann man ihnen trauen?«
»Sprich«, sagte Karan ruhig.
»Gut.« Nors blickte noch einmal nervös zu Tally.
»Ich... soll dir folgendes ausrichten: die Töchter des Drachen hegen keine Feindschaft gegen dich und deinen Sohn. Was in deinem Haus geschehen ist, soll vergessen sein. Sie sind sogar bereit, Wiedergutmachung zu leisten – wenn du sie auslieferst.« Er deutete wieder auf Tally.
»Die Frau und den Waga. Weller interessiert sie nicht.«
»Lächerlich«, sagte Jan. Karan aber schwieg, wie Tally sehr wohl registrierte.
»Sie erzählen es jedem«, fuhr Nors fort. »Und sie sind überall. Ihr müßt vorsichtig sein, wenn ihr weitergeht. Die Stadt ist nicht mehr sicher. Wo du hinblickst, sind Soldaten und Hornköpfe. Im Westen wird gekämpft«, fügte er nach einer sekundenlangen Pause hinzu.
»Gekämpft?« Weller runzelte die Stirn.
»Ein paar der Straßenbanden haben die Garde angegriffen«, bestätigte Nors. »Die Garde hat große Verluste, aber sie rücken weiter vor. Es heißt, der Stadtkommandant hätte sich geweigert, seine Krieger hierher zu schicken, aber Jandhi habe ihn gezwungen.«
»Dann bleibt Karan nur noch ein Weg«, murmelte Karan.
Tally sah ihn aufmerksam an. »Und welcher?«
»Es geht nicht um ihn«, sagte Karan anstelle einer direkten Antwort. »Es geht um seine Freunde, um diese Stadt. Hier im Norden herrschte Frieden, seit langer Zeit.«
»Den Eindruck hatte ich nicht«, sagte Tally säuerlich und hob die Hand zu ihrer schmerzenden Schulter.
»Ein blutiger Frieden vielleicht, mit grausamen Regeln, aber trotzdem Frieden«, beharrte Karan. »Dein Auftauchen hat ihn beendet.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Du ziehst eine Spur von Blut hinter dir her, Tally. Karans Freunde werden sterben, vielleicht wird diese Stadt zerstört. «
»Du übertreibst.«
»Nein.« Weller schüttelte heftig den Kopf. »Hast du vergessen, was ich dir über den Norden der Stadt erzählt habe, Tally? Dies hier ist Schelfheim, aber nicht das Schelfheim der Mächtigen. Hier regieren andere. Der Stadthalter hat hier so wenig zu sagen wie du oder ich. Wenn er seine Krieger hierher schickt, ist das keine normale Patrouille, sondern Krieg. Die Banden werden es nicht hinnehmen. Möglicherweise schlagen sie zurück und legen das schöne piekfeine Schelfheim des Stadthalters ein wenig in Schutt und Asche.«
»Und alles meinetwegen, nicht wahr?« sagte Tally zornig. »Das soll es doch bedeuten, oder?«
»Das soll es«, sagte Karan an Wellers Stelle. »Aber es bedeutet nicht, daß Karan dich verrät. Du warst nur der Auslöser. Gebrochen haben andere die Regeln.«
»Und was wirst du tun?« fragte Tally leise.
»Was die Mächtigen wollen«, antwortete Karan. »Karan wird ihnen sagen, wo du zu finden bist. Aber du wirst nicht mehr da sein.«
Tallys Hand kroch zum Schwert, aber Karan lächelte nur, als er die Bewegung sah. »Nicht, was du denkst, dummes Kind«, sagte er milde. »Karan hat geschworen, es nicht zu tun, doch jetzt bleibt ihm keine Wahl. Er wird dir den Weg zeigen, den du gehen mußt.«
Es dauerte einen Moment, bis Tally begriff. Dann sprang sie vor lauter Erregung auf. »Der Schlund!« keuchte sie.
»Du bringst uns hinunter?«
»Nein«, sagte Karan ruhig. »Aber Karan wird euch zeigen, wie ihr dorthin kommt. Ihr braucht keinen Führer. Sein Geheimnis ist nur, wie es zu tun ist, nicht, es zu tun.«
»Sprich nicht in Rätseln, alter Mann«, sagte Tally drohend.
»Es sind keine Rätsel.« Karan lächelte. »Noch ehe die Nacht zu Ende ist, wirst du wissen, was Karan meint. Er wird euch nicht begleiten, aber er wird dir zeigen, was zu tun ist.« Er seufzte, brach noch ein kleines Stück Brot ab und führte es zum Mund, biß aber nicht hinein.
»Du wirst viel Mut brauchen, Mädchen«, sagte er.
»Den habe ich.«
Aber ganz sicher war sie plötzlich nicht mehr. Ganz und gar nicht.
8
Wieder waren sie unterwegs, nach Norden und damit in gerader Linie zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Nach Tallys Zeitgefühl mußte es Mitternacht sein, aber sicher war sie da nicht: seit sie diese Stadt voller Wahnsinniger betreten hatte, lebte sie nicht mehr nach dem gewohnten Rhythmus. Ihre innere Uhr war ebenso durcheinandergeraten, wie ihre Gefühle es waren. Der Himmel war nicht zu sehen. Es regnete zwar nicht mehr, aber die Wolken waren schwarz und dicht, wie Fäuste, die sich über den Dächern der Stadt ballten und den Mond und die Sterne verbargen. Tally wäre auch nicht erstaunt gewesen, wäre in diesem Moment die Dämmerung hereingebrochen. Trotzdem ihr Zeitgefühl war durcheinander, aber wenn sie noch auf ihre Schätzung vertrauen konnte, so mußte es Mitternacht sein. Eine gute Zeit, zur Hölle zu fahren, dachte sie sarkastisch.
»Wohin gehen wir?« fragte sie.
»Zurück zum Hafen.« Jan antwortete, ohne sie anzusehen. Sein Gesicht war angespannt. Müdigkeit kennzeichnete seine Bewegungen. »Mein Vater besitzt einen Schuppen am mittleren Becken. Dort findet ihr alles, was ihr braucht.«
Tally registrierte sehr deutlich, daß er ihr gesagt hatte, nicht wir. Aber welche Rolle spielte es schon, ob sie allein ging oder in Karans Begleitung? Wahrscheinlich wären der verrückte Alte und sein kaum weniger beschränkter Sohn nur eine Last für Hrhon und sie, wenngleich auf der anderen Seite ihre Kenntnisse unten im Schlund von enormer Wichtigkeit sein mochten. Aber sie hatte ohnehin das Gefühl, daß sie längst keinen Einfluß mehr auf die Geschehnisse hatte.