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»Der Weg in den Schlund führt über den Fluß?« fragte Weller stirnrunzelnd.

»Nur ein kurzes Stück«, erwiderte Jan. »Aber im Schuppen ist alles, war ihr braucht. Die Ausrüstung ist sehr umfangreich. Unser Haus wäre zu klein, sie aufzunehmen.«

Ausrüstung? Das war interessant. Jans Bemerkung bestätigt zwar ihren Verdacht nicht, aber sie war ein weiteres Stück des Puzzlespiels, das sie seit Tagen vergeblich zu lösen versuchte: nämlich die Frage, wie Karan diese Wahnsinnsklippe überwinden wollte. Daß Klettern unmöglich war, hatte er ihr ja praktisch schon bestätigt. Aber wie dann?

Sie verschob die Lösung dieses Problems auf später, schloß mit wenigen raschen Schritten zu Hrhon auf, der die Spitze der kleinen Kolonne bildete, wobei er immer wieder stehenblieb und fragend zu Karan zurückblickte. Hrhon blickte sie ausdruckslos an, aber für einen kurzen Moment glaubt Tally trotzdem, so etwas wie Freude in seinen Augen zu erkennen. Auch, wenn sie wußte, daß es unmöglich war, versuchte sie sich es zumindest einzureden.

Eine weitere halbe Stunde marschierten sie schweigend nach Norden zurück. Das dumpfe Grollen des Wasserfalls nahm allmählich an Macht zu. Die Luft schmeckte feucht. Einmal glaubte Tally Kampflärm zu hören, aber der Wind drehte sich und trug das Geräusch davon, ehe sie sicher sein konnte, und ein andermal sah sie deutlich Feuerschein über den Dächern im Westen aufflammen – ein kurzer, blendendheller Blitz, wie ihn nur ein Ding auf der Welt verursachen konnte, das sie kannte. Instinktiv glitt ihre Hand zum Gürtel und schmiegte sich um die so harmlos aussehende Waffe. Karan hatte recht, dachte sie bitter: sie hatte mit ihrer Ankunft hier Dinge in Bewegung gesetzt, die sie längst nicht mehr aufhalten konnte.

Und sie war keineswegs unverwundbar, wie sie wenig später auf sehr drastische Weise erfahren sollte. Sie hatten sich dem Hafen so weit genähert, daß das Tosen des Wasserfalls eine normale Unterhaltung bereits unmöglich machte und der Boden unter ihren Füßen zitterte. Die wenigen Menschen, die ihnen unterwegs begegnet waren, waren entweder so in Eile gewesen, daß sie keinerlei Notiz von ihnen genommen hatten, oder in heller Panik davongelaufen, als sie die vier bewaffneten Menschen und ihren gepanzerten Begleiter sahen, der zwar keinerlei Waffe trug, aber eine war. Doch ganz plötzlich hatte Tally das Gefühl – nein, nicht Gefühl. Die Gewißheit – beobachtet zu werden. Abrupt blieb sie stehen.

»Was ist los?« fragte Weller. »Warum gehst du nicht weiter?«

Tally zuckte zur Antwort mit den Achseln, zog das Schwert unter dem Mantel hervor und ließ den Blick ihrer angestrengt zusammengepreßten Augen über die Häuserreihe zur Rechten gleiten. Nichts. Nur Schatten. Und doch...

»Ich weiß nicht«, murmelte sie. »Ich... ich glaube, jemand beobachtet uns.«

»Nissst jhemahnd«, zischte Hrhon. »Vhielhe. Sssehn. Vhielleissst fünfssehn.«

Tally blickte den Waga mit einer Mischung aus Schrecken und Ärger an. »Bist du sicher?«

»Nhein«, antwortete Hrhon ruhig. »Esss khöhnnen auch ssswansssig sssein.«

Weller erbleichte vor Schrecken, aber Tally schnitt ihm mit einer raschen Geste das Wort ab. »Wie lange schon?« fragte sie. Sie zweifelte keinen Augenblick an der Wahrheit von Hrhons Worten. Wenn ein Waga sagte, daß sie verfolgt wurden, dann wurden sie verfolgt.

»Eine Wheile«, antwortete Hrhon. »Ssssie khommen nissst nhäher.«

»Eine Weile«, murmelte Tally besorgt. »Und sie kommen nicht näher. Was bedeutet das?« Sie sah Karan an.

»Jandhis Leute? Oder Angella?«

»Was ist dir lieber?« fragte Karan. Tally verzichtete auf eine Antwort, tauschte aber vorsichtshalber das Schwert gegen die Drachenwaffe. Sie war sich darüber im klaren, daß selbst dieses entsetzliche Ding ihr nicht helfen würde, wenn es wirklich die Töchter des Drachen waren, die sie verfolgten. Aber ihr Gewicht beruhigte sie. Seltsam, dachte sie. Noch vor wenigen Tagen erst hatte sie sich geschworen, die Waffe niemals gegen Menschen zu verwenden. Jetzt fieberte sie fast danach, den kurzen Lauf auf Jandhi zu richten und abzudrücken.

»Wenn es Jandhi ist, frage ich mich, wie sie so schnell unsere Spur aufnehmen konnte«, murmelte Weller. Er sah Karan an. »Kann es sein, daß dein Freund –«

»Karans Freunde sind keine Verräter«, unterbrach ihn Karan scharf. »Und selbst wenn«, fügte Jan hinzu, »könnte er nichts sagen. Niemand außer mir und Karan selbst weiß von dem Lagerhaus.« Er machte eine ärgerliche Handbewegung. »Wenn wir noch lange hier herumstehen und reden, finden wir sicher heraus, wer uns verfolgt. Beeilt euch – es ist nicht mehr weit.« Tatsächlich lagen die fünf hintereinandergestaffelten Hafenbecken Schelfheims unter ihnen, als sie die nächste Gasse durchquert hatten. Das Donnern des Wasserfalls, der weniger als eine halbe Meile nördlich über die Kante der Welt hinausschoß, machte eine Unterhaltung unmöglich, wenn sie nicht schreien wollten, aber Jan deutete mit dem Arm nach links, auf das kleinste, unmittelbar hinter der Klippe gelegene Becken. Tally konnte in der Dunkelheit keine Einzelheiten ausmachen, aber sie glaubte sich zu erinnern, daß es ein gewaltiges Schleusentor in der Zyklopenmauer gab, die dem Wasser seine Wucht nahm. Jetzt erblickte sie auf der landeinwärts gewandten Seite des Beckens nichts als eine kompakte, finstere Masse. Wenn Karan sie mit einem Boot aus Schelfheim herausschaffen wollte, mußte jemand die Schleuse öffnen. Aber wie?

Sie bekam keine Gelegenheit, ihre Frage in Worte zu kleiden, denn Karan führte sie in raschem Tempo weiter – eine gewundene, vom Spritzwasser schlüpfrig gewordene Steintreppe hinab, über einen kurzen Steg und eine weitere Treppe, die direkt zum Becken herunter führte, dann ein Stückweit auf den Schlund zu, bis sie auf der Krone der Staumauer entlangliefen. Der Felsen unter ihren Füßen zitterte und bebte unter den Hammerschlägen des Wassers.

Der Wasserspiegel lag gut vier Meter unter ihnen; trotzdem spritzte die Gischt so hoch, daß Tally und die anderen schon nach wenigen Schritten bis auf die Haut durchnäßt waren. Sie vermied es krampfhaft, in die Tiefe zu blicken. Trotz der Dunkelheit war das Wasser weiß, so gewaltig war der Sog, der es gegen den Damm trieb. Ein Fehltritt, dachte sie schaudernd, und sie hatte keine Zeit mehr, zu ertrinken. Wer in diesen Strudel geriet, mußte auf der Stelle zermalmt werden.

Aber sie erreichten unbehelligt das gegenüberliegende Ufer des Beckens. Tally blieb stehen, um einen Moment Atem zu schöpfen, aber Karan trieb sie unbarmherzig weiter. Das Tosen des Wassers war hier so gewaltig, daß sie sich nicht einmal mehr schreiend verständigen konnten, aber sein hastiges Gestikulieren war eindeutig genug.

Eine Reihe flacher, aus Stein gebauter Lagerhäuser tauchte vor ihnen auf, eingehüllt in sprühende Gischt und ganz offensichtlich sehr alt. Manche von ihnen waren nicht mehr als Ruinen, andere standen leer. Die großen, weit offenstehenden Türen erinnerten Tally in der Dunkelheit an aufgerissene Mäuler.

Das Laufen fiel ihr jetzt immer schwerer. Die Luft war so mit Feuchtigkeit geschwängert, daß ihre Kleider wie Zentnerlasten an ihr zerrten und sie das Gefühl hatte, Wasser zu atmen. Mehr als einmal glitt sie auf dem schlüpfrigen Stein aus und kämpfte mit grotesk hüpfenden Schritten um ihr Gleichgewicht. Aber Karan gönnte ihnen nicht die geringste Pause, sondern lief im Gegenteil eher noch schneller. Tally begann sich zu fragen, woher dieser alte Mann die Kraft nahm, nicht einfach auf der Stelle zusammenzubrechen.

Schließlich wurde auch er langsamer – wenn auch nicht vor Erschöpfung, sondern weil sie ihr Ziel erreicht hatten.

Es war ein kleiner, halb über die Kante des Hafenbeckens hinausgebauter Schuppen, zum Wasser hin nicht aus Stein, sondern aus Holz erbaut und irgendwo in der Tiefe mit den schäumenden Fluten verschmelzend: eine raffinierte Mischung aus Schuppen und Bootshaus, wie Tally beim Näherkommen feststellte.

Karan eilte zu einer schmalen Seitentür, nestelte einen Moment lang am Schloß herum und stieß die Tür auf. Er selbst verschwand als erster im Haus, hantierte einen Moment lautstark im Dunkeln herum und tauchte schließlich wieder auf, eine Fackel in der Hand, die nicht richtig brannte und mehr Ruß und Gestank als Helligkeit verbreitete. Es schien in diesem Teil der Stadt nichts zu geben, was sich nicht mit Feuchtigkeit vollgesogen hatte.