Ihre Hand kroch zum Gürtel, näherte sich dem kleinen, rechteckigen Kasten, in den sie hineingesprochen hatte. Ihr Daumen drückte eine winzige Vertiefung auf seiner Oberfläche. Ein kleines, grünes Licht begann an seiner Schmalseite zu leuchten. Jandhi deckte es hastig mit der Hand ab.
»Du hast Tally gefangengenommen, und mich dazu«, fuhr Jandhi fort, sehr laut und mit sonderbar übertriebener Betonung. »Wir sind in Karans Lagerschuppen und deine Geiseln. Du kannst Lösegeld von mir haben, wenn du willst. Aber selbst das Dutzend Leute, das du bei dir hast, wird dich –«
»Was tust du da?« unterbrach sie Angella zornig. Jandhi verstummte mitten im Wort, lächelte verlegen und drückte ein zweites Mal auf ihren sonderbaren Kasten. Tally sah, wie das grüne Licht unter ihren Fingern erlosch. »Nichts«, sagte sie mit gespielter Niedergeschlagenheit. »Ich dachte nur, ich appelliere ein letztes Mal an deine Vernunft. Aber es scheint sinnlos zu sein.« Tallys Gedanken überschlugen sich. Was hatte Jandhi getan? Sie hatte in diesen Kasten hineingesprochen, bevor Angella und ihre Leute aufgetaucht waren, aber was hatte sie jetzt getan?
Sie fing einen fast beschwörenden Blick Jandhis auf und sah rasch in eine andere Richtung. Was immer geschah – in Jandhis Gewalt würde sie wengistens am Leben bleiben, und solange sie lebte, konnte die kämpfen oder fliehen. Angella würde sie umbringen. Sehr langsam.
Zwei von Angellas Männern brachten Hrhon herein. Der Waga war mit Ketten gebunden, und über seiner linken Schläfe war seine Haut aufgeplatzt. Einer seiner Begleiter hatte einen Dolch an seinen Hals gesetzt und so verkantet, daß sich Hrhon selbst die Kehle aufschlitzen mußte, wenn er versuchte, den Schädel in den Panzer zurückzuziehen.
Der Anblick erfüllte Tally mit jähem Entsetzen. Sie schrie auf, stieß Angella beiseite und stürmte auf den Waga zu, ohne auf das Dutzend Waffen zu achten, das sich ihr drohend entgegenreckte. Aus den Augenwinkel sah sie, wie zwei von Angellas Männern auf sie zustürzen wollten und Angella selbst sie mit einer raschen Geste zurückrief. Das Mädchen mit dem Narbengesicht genoß offensichtlich jede einzelne Sekunde. Tally verlängerte die Liste der Dinge, die sie ihr antun würde, in Gedanken um einige Punkte.
»Hrhon!« rief sie entsetzt. »Großer Gott, was haben sie dir getan?«
Angellas Männer stießen den Waga grob zu Boden. Hrhon fiel, wälzte sich schwerfällig herum und stieß ein tiefes, schmerzerfülltes Stöhnen aus. Dunkles Echsenblut sickerte aus seinem Panzer. »Esss issst... nichtsss«, stöhnte er. Seine Stimme war viel tiefer als gewohnt, und es war ein Klang darin, der Tally frieren ließ. Die Vorstellung, daß Hrhon sterben konnte, erfüllte sie mit Panik.
Hastig kniete sie neben ihm nieder, versuchte vergeblich, seine vierhundert Pfund herumzudrehen und legte schließlich die Hand auf seine flache Stirn. Hrhons Schuppenhaut fühlte sich heiß und trocken an. »Was haben sie dir getan?« murmelte sie noch einmal. Plötzlich erfüllte sie heißer, kaum mehr zu bändiger Zorn. Aus schmalen Augenschlitzen sah sie zu Angella auf.
»Du Bestie!« zischte sie. »Dafür wirst du bezahlen.«
»So?« Angella lächelte. »Habe ich deinem Schoßhündchen weh getan? Aber keine Sorge – er wird bald von seinen Leiden erlöst sein. Packt ihn!« Die letzten Worte galten den beiden Männern, die den Waga hereingebracht hatten.
Die beiden wollten gehorchen, aber Tally fuhr mit einer so wütenden Bewegung herum, daß sie mitten im Schritt stockten und unsicher zu Angella aufsahen.
»Einen Augenblick noch, Angella«, sagte Tally. »Ich bitte dich. Er ist mein Freund.« Ihr Gaumen war trocken vor Aufregung. Sie konnte kaum sprechen. Ihre Chancen standen eins zu tausend, das wußte sie. Aber sie hatte keine Wahl.
Und zu ihrer eigenen Überraschung nickte Angella nach ein paar Sekunden. In ihren Augen blitzte es spöttisch.
»Wie rührend«, sagte sie. »Aber bitte – nimm Abschied von deinem Freund. Es ist ja nicht für lange – falls du an ein Leben nach dem Tode glaubst, heißt das.«
Tally schluckte die Bemerkung herunter, die ihr auf der Zunge lag. Sie hatte so erbärmlich wenig Zeit, daß sie es sich nicht leisten konnte, auch nur eine einzige Sekunde davon zu verschwenden.
»Es... es tut mir so unendlich leid, Hrhon«, sagte sie, leise, aber nicht so leise, daß Angella die Worte nicht hören konnte. »Ich wollte noch so viel mit dir erleben. Und jetzt endet es so.«
Hrhon blickte sie an. Seine Augen waren trüb vor Schmerz. Verstand er sie? Sie betete, daß sein Geist nicht bereits so umnebelt war, daß er nicht begriff.
»Wir werden uns wiedersehen, mein Freund«, sagte sie lächelnd. »In einer anderen Welt. Und du gehst nicht allein. Hast du noch die beiden Andenken, die wir aus dem Turm mitgebracht haben?«
Angella sog hörbar die Luft ein und fuhr auf der Stelle herum. Sie hatte begriffen.
Aber so schnell sie war – Hrhon war schneller.
Seine Arme verschwanden mit einem scharrenden Laut im Inneren seines übergroßen Schildkrötenpanzers. Und als sie wieder auftauchten, hielt er in jeder Hand eine der kleinen tödlichen Drachenwaffen.
Angella schrie zornig auf und griff zum Schwert, und neben Tally war plötzlich eine rasche, erschrockene Bewegung. Ein Schwert blitzte.
Tally ließ sich zur Seite fallen, trat dem Mann gezielt in den Leib und warf sich abermals herum, als er zusammenbrach. Sie versuchte gar nicht erst, aufzuspringen, denn sie wußte, daß sie im gleichen Moment von einem halben Dutzend Klingen durchbohrt sein würde, sondern ließ sich nach hinten kippen, Hrhons gewaltigen Panzer als Deckung über sich, richtete die beiden Waffen auf Angella und die Männer neben ihr und stieß einen schrillen, unartikulierten Schrei aus.
Angella erstarrte mit einer Plötzlichkeit, die mehr als alle Worte deutlich machten, daß sie die Wirkung der Laserwaffen nur zu gut kannte. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Haß und Wut. Aber sie stand starr wie eine Statue. Nur in ihren Augen war noch Leben.
»Wenn ich du wäre, Angella«, sagte Tally gezwungen ruhig, »würde ich meinen Männern befehlen, die Waffen zu senken.« Sie wedelte drohend mit einem der beiden Laser. »Wahrscheinlich können sie mich umbringen, ehe ich Hallo sagen kann«, fuhr sie fort. »Aber ich bin sicher, ich kann vorher noch abdrücken.«
Angella schwieg verbissen. Ihre Zungenspitze fuhr nervös über ihre Lippen. Tally konnte direkt sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete.
»Ich würde tun, was sie sagt«, sagte Jandhi ruhig. »Sie schießt, Angella. Sie hat nicht mehr viel zu verlieren, weißt du?«
»Du kommst nie hier heraus«, sagte Angella gepreßt.
»Auch mit diesen Dingern nicht.«
»Möglich«, antwortete Tally. »Aber du auch nicht. Also?«
Wieder vergingen endlose Sekunden, in denen Angella sie nur voller stummem Haß anstarrte. Dann nickte sie. Tally sah, wie schwer ihr die Bewegung fiel.
»Gut«, sagte sie. »Aber wenn du überhaupt noch eine Chance hattest, am Leben zu bleiben, hast du sie gerade verspielt, Liebling.«
Tally ignorierte sie, »Was ist hinter mir, Weller?« fragte sie.
»Ein Kerl mit einer Axt«, antwortete Weller ruhig. »Soll ich sie ihm in den Hals schieben?«
Tally unterdrückte ein Lächeln. »Nein«, sagte sie.
»Aber wenn er sie nicht sofort wegwirft, hackst du ihm ein paar Zehen damit ab.«
Hinter ihr klirrte Metall auf Stein.
»Du kannst aufstehen«, sagte Weller.
Ganz vorsichtig erhob sich Tally; nicht ohne vorher einen raschen Blick in die Runde geworfen zu haben. Was sie sah, gefiel ihr nicht – Angellas Männer standen allesamt wie zur Salzsäule erstarrt da. Manche von ihnen hatten noch immer die Waffen erhoben, aber niemand schien ernsthaft den Gedanken zu erwägen, sich auf sie oder Weller zu stürzen. Dabei hatte Tally weitaus mehr den Eindruck, daß es Sorge um das Leben ihrer Anführerin war als Angst vor den Waffen, die sie in Händen hielt.
Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf ein Schwert, das einer der Männer fallengelassen hatte. Weller verstand den Wink und hob die Waffe auf. Tally wich ein paar Schritte zum Beckenrand zurück, drehte sich halb im Kreis und musterte das Dutzend Bewaffneter finster. Ihr Rücken war frei, und abgesehen von der Stelle, an der Hrhon sich schwerfällig zu erheben versuchte, hatte sie freies Schußfeld. Trotzdem fühlte sie sich alles andere als sicher.