Karan schnaubte, drehte sich aber mit einem Ruck um und griff nach einem von drei unterschiedlich großen Hebeln, die vor ihm aus der Bootswand ragten.
Ein harter Schlag ging durch das Schiffchen. Dicht unter der Wasseroberfläche zerriß ein Tau mit solcher Plötzlichkeit, daß sein zerfetztes Ende wie eine Schlange aus dem Wasser hervorbrach und nach den Männern auf der Mauer hieb.
Das Boot schoß wie ein Pfeil aus dem Schuppen.
Und dann brach schier die Hölle los.
Drinnen in Karans Bootshaus war das Wasser fast still gewesen; seine Mauern hatten die größte Wucht der Strömung gebrochen. Hier draußen aber war das winzige Boot den tobenden Gewalten schutzlos ausgeliefert. Eine Reihe harter, unglaublich harter Schläge traf seinen Rumpf und schüttelte seine Insassen durch. Gischt spritzte meterhoch und überschüttete Tally mit eisiger Kälte. Hastig ließ sie die Waffen sinken und klammerte sich am dünnen Holz des Rumpfes fest. Trotzdem hatte sie das Gefühl, jeden Moment im hohen Bogen ins Wasser katapultiert werden zu müssen. Das Schiff bockte und stampfte wie ein durchgehendes Pferd. Ein tiefes, beinahe schmerzhaft klingendes Ächzen drang aus dem unter Wasser liegenden Teil des Schiffes. Karan begann zu schreien.
Tally war fast blind. Himmel und Wasser verschwanden hinter einer Mauer aus sprühender weißer Gischt; trotzdem erkannte sie noch, daß sie sich mit geradezu phantastischer Geschwindigkeit vom Schuppen entfernten – und geradewegs auf die Staumauer zuschossen!
»Wo sind die Ruder!« brüllte sie. »Karan, zum Teufel – wie lenkt man dieses Ding!«
»Überhaupt nicht«, schrie Karan zurück. »Halt dich fest und bete, daß Jan die Schleuse öffnet, ehe wir an der Wand zerschellen!«
Tally betete nicht, aber sie versuchte verzweifelt, durch den Schleier aus sprühender weißer Gischt hindurchzusehen. Für einen Moment glaubte sie, winzige hastende Gestalten am Ufer zu erkennen, die sich flußaufwärts bewegten, auf die Wehrmauer zu, die sie durchqueren mußten. Angellas Männer. Selbst, wenn es Jan gelang, die Schleuse zu öffnen – sie würden sich hindurchkämpfen müssen.
Wenn sie dann noch lebten – denn das Boot schaukelte und bockte jetzt immer mehr. Tally konnte die dünnen Spanten unter ihrem Körper ächzen hören. Noch drei, vier dieser entsetzlichen Erschütterungen, dachte sie, und das Schiff würde wirklich zerbrechen. Das Knirschen des überlasteten Rumpfes hörte sich an wie Schmerzensschreie.
Aber sie sah auch, daß sie sich jetzt nicht mehr in gerader Linie auf die dem Schlund zugewandte Seite des Beckens zubewegten, sondern eine sehr langgezogene Spirale begonnen hatten.
Und sie begriff beinahe zu spät, was diese jähe Kursänderung bedeutete...
Das Boot jagte mit der Geschwindigkeit eines Pfeiles in den Strudel hinein, tauchte für eine endlose, schreckliche Sekunde vollends unter und brach schäumend wieder aus dem Wasser hervor.
Für einen ganz kurzen Moment hatte Tally den Eindruck, zwei gigantische weiße Dinge zu sehen, die zu beiden Seiten des Rumpfes aus dem Schiff ragten, absurde Konstruktionen wie hölzerne Segel, riesig und spitz zulaufend, aber unsinnigerweise so angebracht, daß sie normalerweise unter der Wasseroberfläche liegen mußten. Aber sie hatte Augen und Mund voller Wasser und war viel zu sehr damit beschäftigt, nach Atem zu ringen, um richtig hinsehen zu können, und im nächsten Moment klatschte das Schiff mit einem so ungeheuerlichen Schlag ins Wasser zurück, daß sie mit dem Kopf gegen die Bordwand prallte und sekundenlang benommen hocken blieb.
»Die Schleuse!« schrie Karan. »Sie geht auf! Jan hat es geschafft. Sie geht auf!«
Tally stemmte sich mühsam hoch und blickte nach Süden. Die Mauer des Hafenbeckens lag weiter wie ein fett gemalter Tuschestrich vor ihr. Schatten bewegten sie darauf, Metall blitzte, aber sie konnte nicht die mindeste Lücke in der nachtschwarzen Barriere erblicken, die zwischen ihnen und der Freiheit lag.
Dann begann sich das Boot zu bewegen. Und es waren keine willkürlichen wilden Stöße mehr, sondern ein fast sanftes Drehen, als es von einer neuen, sehr machtvollen Strömung gepackt wurde...
... und den spitzen Bug nach Norden richtete.
Direkt auf den Schlund.
Tally schrie in heller Panik auf, als sie begriff. Wo Sekunden zuvor noch das gewaltige eiserne Schleusentor gewesen war, gähnte eine Lücke, aus der Entfernung betrachtet nicht breiter als ihre Hand, und mit hoch aufschießendem, gischtenden Wasser gefüllt. Aber sie wurde breiter, im gleichen Maße, in dem die Geschwindigkeit ihres Schiffes zunahm.
Und dahinter lag der Wasserfall, eine Glocke aus sprühendem Nebel und Donner, die Kante der Welt, über die der Fluß hinausschoß, um sich in der Leere zu verlieren.
»Dieser Idiot!« brüllte Weller. »Er hat das falsche Tor geöffnet!«
Tally wollte antworten, aber sie konnte es nicht. Sie war gelähmt. Der Anblick paralysierte sie, lähmte ihren Körper, ihre Gedanken, ihre Seele. Das Boot schoß, schneller und schneller werdend, auf die sich öffnende Schleuse zu, und plötzlich begann Karan wie besessen an seinen Hebeln zu zerren und zu reißen. Immer weiter und weiter stieg ihre Geschwindigkeit. Die Schleuse jagte auf sie zu, wuchs von einer handbreiten Spalte zu einem gewaltigen klaffenden Maul und nahm für einen unendlich kurzen Moment die gesamte Welt ein.
Dann waren sie hindurch, und vor ihnen lag nichts mehr als eine halbe Meile Wasser, das so schnell dahinschoß, daß es zu Glas zu werden schien. Gischt und Donner blieben hinter ihnen zurück. Das Boot beschleunigte noch weiter, wurde schneller und schneller und schneller und schien sich schließlich gar ein Stückweit aus dem Wasser zu herauszuheben.
»Festhalten!« brüllte Karan.
Seine Worte gingen im urgewaltigen Tosen des Wasserfalles unter. Das Schiff schoß mit der Schnelligkeit eines Pfeiles in die Glocke aus sprühendem Wasser und Lärm hinein, jagte auf den Rand der Welt zu und ritt noch einen Moment auf dem glitzernden Strom, der fünfzig, hundert Meter weit ins Nichts hinausführte, ehe er sich senkte und zu feuchtem Staub wurde, der fünf Meilen weit in die Tiefe stürzte.
Dann war unter ihnen nichts mehr. Die Zeit schien stehenzubleiben. Tally sah winzige, glitzernde Wassertropfen, die schwerelos in der Luft zu schweben schienen, den gewaltigen donnernden Strom, der sie hinausgerissen hatte, die Klippe, die plötzlich nicht mehr vor, sondern für einen unendlich kurzen Moment neben und dann hinter ihnen lag, und dann...
... und dann begann sich der Bug des Schiffes langsam zu senken.
Und der Sturz in die Hölle begann.
»Dann hat sie also auch Karan und den anderen den Tod gebracht.« Die Stimme des Mädchens bebte vor Schrecken. Es war hell geworden, und das Kind war müde, so müde wie niemals zuvor in seinem Leben, aber die Worte der dunkelhaarigen Fremden hatten es so in Bann geschlagen, daß es jetzt einfach unmöglich war, einzuschlafen. Gleich, wie lange es dauerte, sie wollte sie zu Ende hören.
Nach einer Weile nickte die Frau, gleichzeitig schüttelte sie den Kopf. »Ja. Aber erst später.«
»Später?« Das Mädchen begriff nur zögernd, daß die Geschichte noch nicht zu Ende war. Gleichzeitig war es erleichtert.
»Viel später«, antwortete die Fremde. Sie lächelte, sah wieder
- wie zahllose Male zuvor im Laufe dieser Nacht – zum Himmel empor und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Auch sie wirkte jetzt müde. Ihre Art zu sprechen, war in den letzten Stunden schleppender geworden. Ihre Stimme klang matt. Aber das Lächeln in ihren Augen war so sanft und warm wie zu Anfang.
»Ihre Geschichte könnte jetzt zu Ende sein«, sagte sie leise.
»Möchtest du das?«
Das Mädchen überlegte nur einen Sekundenbruchteil, dann schüttelte es so heftig den Kopf, daß seine Haare flogen. Es wollte ganz entschieden nicht, daß Tallys Geschichte jetzt zu Ende war; zum einen, weil es ein Kind war, und es auf die Fortsetzung der Erzählung brannte. Aber da gab es noch einen anderen, sehr viel wichtigeren Grund, den es selbst in dieser Klarheit nicht begriff, aber sehr deutlich spürte. Ja, es hatte direkt Angst davor, daß die Fremde nun sagen könne, Tally und die anderen hätten sich zu Tode gestürzt. Es wäre eine Ende, sicher, aber kein befriedigendes. Nach der Meinung des Kindes brauchte jede Geschichte ein Ende, nicht unbedingt ein gutes, aber einen Abschluß. Eine Geschichte wie die Tallys durfte nicht so enden, denn das hätte nichts anderes bedeutet, als daß sie wahr war. Geschichten, die man sich ausdachte, endeten anders; nur die Wirklichkeit war grausam genug, eine jahrzehntelange Anstrengung zu einem Witz herabzusetzen. Zum ersten Mal, seit das Mädchen der Fremden zuhörte, bekam sie Angst, daß Tallys Abenteuer mehr als eine Geschichte sein konnten.