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»Sie haben den Schlund erreicht?« fragte das Mädchen. Seine Stimme bebte vor Angst.

Die Fremde nickte. »Das haben sie, Kind. Und mehr. Sie haben gefunden, wonach Tally gesucht hatte, all die Zeit.«

»Aber wie?« fragte das Mädchen. »Der Abgrund war fünf Meilen tief!«

»Sicher.« Zur Enttäuschung des Kindes sprach die Fremde nicht weiter, sondern stand auf, reckte ihre vom langen Sitzen steif gewordenen Glieder und gähnte ungeniert, ohne die Hand vor den Mund zu heben. Ihr Benehmen war dem Kind peinlich. Ihre Mutter hätte sie für ein solches Betragen gescholten, und nun tat diese Frau genau das, was ihr, dem Kind, bei Strafe verboten war.

»Erzähl mir, wie es weiterging.«

Die Frau nickte. Ihr Gesicht wirkte grau vor Müdigkeit. Das Mädchen glaubte zu spüren, daß sie Angst hatte. »Sicher«, sagte sie. »Aber nicht hier!« Sie sah sich suchend um, blickte abermals in den Himmel und deutete schließlich auf den kleinen Buchenhain, der sich zwei Meilen entfernt erhob.

»Laß uns dorthin gehen«, sagte sie. »Der Tag wird heiß. Vielleicht finden wir dort drüben ein wenig Schatten und Wasser.«

Das Mädchen stand gehorsam auf, und während sie Seite an Seite den grasbewachsenen Hang hinabgingen, begann die Frau wieder zu erzählen:

»Im ersten Moment waren alle starr vor Schreck. Wahrscheinlich dachten sie an den Tod, jeder auf seine Weise, und Tally tat es ganz bestimmt. Der Sturz schien endlos zu dauern, und...

5. Kapitel

Der Schlund

1

Tally schrie. Der Wind riß ihr die Laute von den Lippen, aber sie schrie weiter, bis ihre Kehle vor Schmerzen zu zerreißen schien. Ihr Herz jagte. Ihre Finger krallten sich mit solcher Macht in den Bootsrumpf, daß ihre Nägel brachen. Blut lief an ihren Händen herab. Sie merkte es nicht einmal.

Das Boot wurde schneller und schneller. Himmel und Erde drehten sich um sie herum; kippten nach rechts und links und oben und unten, wie in einem irrsinnigen Tanz. Die Klippe war ein Schatten in schmutzigem Grau, halb aufgelöst hinter einem Vorhang aus sprühendem Wasser, dann nur noch ein Schemen; dann nichts mehr. Schwärze hüllte sie ein, nur durchbrochen vom Schreien der anderen und ihren verzweifelten, sinnlosen Bewegungen. Unter ihnen war das Nichts, ein entsetzlicher, fünf Meilen tiefer Abgrund, in den sie stürzten, schnell und ohne eine Chance, den Fall aufzuhalten.

Panik übermannte sie. Sie hörte Karan etwas rufen, ohne die Worte verstehen zu können, hörte Hrhons helles, angstvolles Zischen und spürte, wie Angella in ihren Händen zu zappeln begann. Ihre Hände glitten in einer Bewegung blinder Furcht an Tallys Gesicht empor und krallten sich in ihre Haut. Blut lief Tally in die Augen. Ein scharfer Schmerz schoß durch ihre linke Schläfe.

Blindlings schlug sie mit der flachen Hand zu. Angella keuchte, suchte nun gezielt mit den Fingernägeln nach Tallys Augen und handelte sich einen zweiten, weit härteren Schlag ein. Sie erschlaffte, sackte nach hinten und fiel schwer gegen Tally.

Wie lange dauerte dieser entsetzliche Sturz? dachte Tally. Sie hatte das Gefühl, schnell wie ein Pfeil in die Tiefe zu jagen, aber ihr bizarres Gefährt wurde immer noch schneller. Der Wind schnitt wie mit Messern in ihre Augen. Sie konnte kaum mehr atmen.

Und endlich begriff sie, daß sie nicht fielen.

Sie stürzten, aber sie fielen nicht. Das Boot – das alles war, nur kein Boot!, dachte Tally entsetzt – war von der Wucht der Strömung getragen ins Nichts hinausgeschossen, aber wo der Sturz beginnen sollte, schloß sich ein jähes, aber lange nicht lotrechtes Gleiten an.

Das Brüllen des Wasserfalles blieb hinter ihnen zurück, aber dafür hüllten sie das Heulen des Windes und eisige Kälte ein, und ein hoher, pfeifender Laut, wie ihn Tally noch niemals zuvor in ihrem Leben gehört hatte. Trotzdem erinnerte er sie an etwas. Sie wußte nur nicht, woran.

Und plötzlich wurde es hell. Ihr bizarres Gefährt glitt, wie ein Vogel mit reglos ausgestreckten Schwingen auf dem Wind reitend, aus dem Schatten der Klippe heraus, und Sternenschein hüllte es ein. Es war nur ein Schimmer von Licht, aber nach der absoluten Dunkelheit zuvor glaubte Tally doch erstaunlich viele Einzelheiten zu erkennen. Vielleicht arbeiteten ihre Sinne auch nur mit größerer Schärfe, wie es oft in Momenten extremer Gefahr geschah.

Was sie sah, ließ sie an ihrem Verstand zweifeln – so heftig, daß sie für einen Moment die Möglichkeit ernsthaft in Erwägung zog, in Wahrheit längst tot zu sein und dies alles nicht wirklich zu erleben. Aber es war wahr: Sie schwebten!!!

Das Boot stürzte nicht, sondern ritt auf dem Wind, steil nach vorne und zugleich ein wenig zur Seite geneigt, bockend und schüttelnd wie ein richtiges Boot auf einem richtigen, mit Wasser gefülltem See. Und trotzdem war es schwerelos, einem Papiersegler gleich, wie ihn sich Kinder bauten, aber zehn Meter lang und aus Holz – eine vollkommene Unmöglichkeit, die jeder Logik eine lange Nase drehte und sich einfach weigerte, abzustürzen, wie es sich gehörte. Sie schwebten! SIE SCHWEBTEN!!!

Obwohl sie vor Angst und Entsetzen schier den Verstand zu verlieren drohte, zwang sie sich, Angellas regloses Gewicht nach vorne zu schieben und an ihr vorbei nach rechts zu sehen. Im schwachen Licht der Sterne sah sie zum ersten Male das, was sie für ein Schiff gehalten hatte.

Es war kein Schiff. Es war nichts, was sie jemals gesehen hätte. Es war eine gigantische, im Sternenlicht knochenweiß glänzende Konstruktion aus Holz und Metall und dünnen Seilen, die so straff gespannt waren, daß sie sangen.

Der Bootsrumpf war nur ein winziger Teil des sinnverdrehenden Dings, ein schmaler, spitz zulaufender Zylinder, dessen oberes Drittel weggeschnitten worden war, und der zwischen zwei gigantische, unregelmäßige Dreiecke aus Holz eingebettet war, jedes mindestens fünfzehn Meter lang, dabei aber nicht viel stärker als ihr Arm. Das ganze unmögliche Etwas erinnerte sie an eine gigantische Pfeilspitze.

Und es flog.

Es war unmöglich, aber es flog.

»Karan!« schrie sie über das Heulen des Windes hinweg. »Was ist das?«

Karan reagierte nicht. Wahrscheinlich hatte er ihre Worte gar nicht gehört; vielleicht hatte er auch keine Zeit zu antworten. Tally erkannte ihn nur als dunklen, formlos wirkenden Schatten vor sich, zusammengekauert und mit beiden Händen an einem der Hebel zerrend, die vor ihm aus dem Boden ragten.

Weller, der direkt hinter ihm saß, wimmerte vor Angst und hatte sich zu einem Ball zusammengerollt, der halb unter Hrhon begraben lag. Der Waga hatte Kopf und Gliedmaßen in seinen Panzer zurückgezogen und sah nun wirklich aus wie eine übergroße Schildkröte. Die einzige, die außer Tally noch einen halbwegs klaren Kopf behalten zu haben schien, war Angella; denn sie hatte sich wieder aufgerichtet und blickte an Tally vorbei in die Tiefe. Vielleicht hatte sie Tallys Schlag auch nur halb betäubt. Ihre Augen waren glasig. Blut lief aus ihrer aufgeplatzten Lippe.