»Wir sind zu schwer!« schrie Karan plötzlich. Für einen ganz kurzen Moment drehte er den Kopf, und Tally sah die Furcht in seinen Augen. »Wir stürzen!« Verzweifelt begann er an seinem Hebel zu zerren, wobei er sich mit beiden Beinen gegen den Boden stemmte, um mehr Kraft zu haben. Für einen winzigen Moment glaubte Tally, den Bug des Schiffes sich heben zu sehen. Die Sterne über ihr tanzten.
»Werft Ballast ab!« brüllte Karan. »Werft alles über Bord, was ihr könnt, oder wir zerschellen!«
Aber Tally hätte nicht einmal reagieren können, werm sie es gewollt hätte. Das Boot war hoffnungslos überfüllt; von der Hüfte abwärts war sie eingeklemmt. Das einzige, was sie über Bord hätte werfen können, wäre Angella gewesen...
»Bei den Dämonen der Tiefe – werft irgend etwas hinaus!!« brüllte Karan mit überschnappender Stimme.
»Wir sind zu schwer!« Diesmal war der Ton in seiner Stimme Panik.
Wieder einmal war es Hrhon, der sie rettete. Der Waga steckte vorsichtig den Kopf aus seinem Panzer, sah Karan einen Moment lang ausdruckslos an – und stemmte sich mit ungeheurer Kraft in die Höhe. Das zerbrechliche Boot erbebte wie unter einem Hammerschlag. Hrhon wankte wild hin und her, durch die jähe Bewegung aus dem Gleichgewicht gebracht. Karan brüllte irgend etwas, und Hrhon griff fester zu. Das fliegende Boot hörte auf zu taumeln.
»Die Säcke, Weller!«
Weller reagierte nicht. Karan fluchte und versetzte ihm einen derben Tritt in die Rippen, und der Schmerz trieb ihn hoch. Mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht zerrte er einen der schweren Leinensäcke unter Hrhons Körper hervor, wuchtete ihn hoch und warf ihn aus dem Boot. Mit einem dumpfen Laut prallte er auf die hölzerne Schwinge, schlitterte nach hinten und verschwand in die Tiefe. Tally versuchte seinen Sturz zu verfolgen, aber er verschwand in der Dunkelheit, lange ehe er auf dem Boden aufschlug.
»Mehr!« schrie Karan. »Alle! Werft sie alle hinaus!«
»Aber wir brauchen die Ausrüstung!« rief Tally. »Du hast selbst gesagt –«
»Wenn wir nicht leichter werden, brauchen wir überhaupt nichts mehr!« unterbrach sie Karan. »Hilf ihm!« Tally wußte hinterher selbst nicht mehr, wie sie es geschafft hatte – in der Enge des Bootes schien es unmöglich, auch nur einen Finger zu rühren; geschweige denn, die fast mannsgroßen Leinensäcke herauszuheben. Aber irgendwie gelang es Weller und ihr, die Gepäckstücke eines nach dem anderen unter ihren Körpern hervorzuzerren und in die Tiefe zu werfen. Und schließlich war nichts mehr da, was sie abwerfen konnten.
»Wir sind immer noch zu schnell!« brüllte Karan. In seiner Stimme war nun ein deutlicher Unterton von Panik.
»Der Gleiter ist überladen! Er ist für zwei gebaut, und wir sind fünf – sechs, wenn Karan dieses Ungeheuer doppelt zählt!« Er wies mit einer Kopfbewegung auf Hrhon. »Wir werden abstürzen!«
»Aber... aber das... das tun wir doch schon!« stammelte Weller. »Wir werden sterben! Wir... wir –«
»Halt endlich das Maul, du Idiot«, unterbrach ihn Angella. »Hast du immer noch nicht begriffen, daß wir fliegen?« Sie stöhnte, hob die Hand an die aufgeplatzte Lippe und betrachtete einen Moment lang das Blut, das plötzlich auf ihren Fingern war. Dann starrte sie Tally an.
»Das zahle ich dir heim, Schätzchen«, sagte sie drohend. Tally sah sie mit einer Mischung aus Verwirrung und Zorn an. Zorn, daßAngella nicht einmal in diesem Moment aus ihrer Haut herauskonnte, und Verwirrung über das, was sie zu Weller gesagt hatte.
»Fliegen?« murmelte sie verstört. »Aber das ist... unmöglich...«
»So?« Angella schnaubte verächtlich. »Dann spring doch über Bord. Vielleicht haben wir dann eine Chance.« Tally ignorierte ihre Worte. Einen Moment lang starrte sie Karan an, dann drehte sie sich herum, so weit es die Enge des Bootes zuließ.
»Karan, was... was ist das?« stammelte sie. »Was ist das für ein Ding?!«
»Sssauberei«, zischelte Hrhon. »Whirhr sssind verlhohren! Dasss issst Sssauberei!«
»Es ist ein Gleiter, und keine Zauberei, du blödes Fischgesicht!« schrie Karan zurück. »Und zwar einer, mit dem Karan und ihr sich die Hälse brechen werden! Wir sind noch immer zu schwer!«
Aber entgegen seiner Worte hatte ihr rasender Sturz schon viel an Schnelligkeit verloren. Aus dem jähen indie-Tiefe-Schießen war ein zwar noch immer schnelles, aber nicht mehr sehr steiles Gleiten geworden. Tally konnte spüren, wie das bizarre Gefährt auf dem Wind ritt, wie ein Stein, der flach über das Wasser geschleudert worden war. Mit klopfendem Herzen beugte sie sich nach rechts und starrte in die Tiefe.
Einen Moment lang glaubte sie ein machtvolles, düsteres Wogen und Schweben unter sich wahrzunehmen. Dann begriff sie, daß es nur ihre eigene Angst war, die ihr Dinge vorgaukelte, die nicht da waren. Wenn es unter ihnen überhaupt so etwas wie einen Boden gab, so war er noch unsichtbar.
»Kannst du dieses Ding steuern?« fragte sie.
»Ein wenig«, antwortete Karan. Seine Stimme klang gepreßt. Trotz des eisigen Windes war sein Gesicht voller Schweiß. Die Anstrengung, den (wie hatte er das Ding genannt? Gleiter?) Gleiter zu lenken, mußte alles von ihm verlangen.
»Dann steuere es nach Norden!« sagte Tally. »Hundertfünfzig Meilen nach Norden, und –«
»Hundertfünfzig Meilen?« Karan lachte schrill. »Du bist von Sinnen! Karan ist froh, wenn er fünfzehn Meilen weit kommt! Außerdem ist es gleich, wie weit er fliegt, bevor er an den Bäumen zerschellt! Der Gleiter ist zu schnell!«
»Aber wir fliegen doch!« antwortete Tally.
»Und?« schrie Karan zurück. »Was heißt das? Hast du schon einmal auf einem durchgehenden Pferd gesessen?«
»Warum?«
»Wie bist du abgestiegen?« fragte Karan.
Tally antwortete vorsichtshalber nicht.
Eine Zeitlang jagten sie schweigend dahin, und Tally versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen, das hinter ihrer Stirn tobte. Ein wenig zweifelte sie immer noch an ihrem Verstand, aber andererseits – sie hatte Frauen gesehen, die auf fünfzig Meter großen Drachen ritten, war intelligenten Insekten begegnet, die ihre Gedanken lasen, hatte eine Waffe erbeutet, deren Feuer heißer war als das der Sonne – warum also sollten sie nicht fliegen? Sah man davon ab, daß es unmöglich war, sprach nichts dagegen ...
Tally beschloß, den Gedanken nicht weiter zu verfolgen. Statt dessen drehte sie sich mühsam herum und blickte in die Richtung zurück, in der die Klippe liegen mußte. Die hölzerne Haifischflosse des nach oben deutenden Ruders schnitt die Welt hinter ihr in zwei Teile. Tally sah jetzt, daß sie sich bewegte, wie eine wirkliche Fischflosse manchmal nach rechts, manchmal nach links schwenkte, und jedesmal machte das fliegende Gefährt die Bewegung mit. Unbeschadet seiner eigenen Worte schien es Karan doch gelungen zu sein, den Gleiter irgendwie unter Kontrolle zu bringen.
Dahinter lag die Küste. Die Klippe selbst war unsichtbar, nur ein dunklerer Schatten vor dem Schwarz der Nacht. Aber sie konnte die Stadt sehen, wie ein Diadem aus tausend mal tausend mal tausend Lichtern, das über einen gewaltigen Bereich der Küste verstreut war. Seltsamerweise lag sie unter ihnen...
Eine geraume Weile verging, bis Tally klar wurde, was diese Beobachtung bedeutete.
»Wir... wir steigen!« rief sie aus. »Karan – wir steigen nach oben!«
»Natürlich«, antwortete Karan. »Es gibt starke Aufwinde hier an der Küste. Das ist es nicht, was Karan Sorge macht!«
»Wasss sssonst?» wisperte Hrhon.
Karan wies mit einer Kopfbewegung auf die schwarze Wand, in die sie hineinschossen. »Der Gleiter ist zu schnell. Karan wird ihn nicht landen können, ohne daß er zerbricht!«
Tally wollte etwas darauf antworten, doch in diesem Moment traf ein harter Schlag den Gleiter. Die gewaltigen Schwingen ächzten wie unter einem Hieb. Tally wurde nach vorne geschleudert, prallte heftig gegen Angellas Gesicht und schmeckte Blut, als sie sich auf die Zunge biß.