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»Unser kleiner Liebling wird uns schon heraushauen, mit seiner Wunderwaffe, nicht wahr, Tallyschätzchen?« fuhr Angella fort. »Weiß du, wenn wir nicht schon so gut wie tot wären, käme ich jetzt glatt in Versuchung, dich umzubringen.«

Tally blickte in die Richtung, in der sie Angella spürte.

»Was muß noch passieren, damit du endlich Vernunft annimmst?« fragte sie ärgerlich.

Angella lachte leise, und obwohl es ein sehr abfälliges, ja, bewußt kaltes Lachen war, war es ein Laut, der Tally auf sonderbare Weise gut tat. »Aber ich bin doch vernünftig«, sagte sie. »Wenn das nicht so wäre, wärst du jetzt tot, Liebling.«

»So?« fragte Tally spöttisch.

Sie hörte, wie Angella nickte. »Ich hätte dir dein hübsches Lockenköpfchen von den Schultern schneiden können, wenn ich gewollt hätte. Frag Karan, wer von uns als erster wach war.«

»Sssie sssagt die Whahrheit, Herrin«, wisperte Hrhon auf der anderen Seite der Dunkelheit. »Sssie whar esss, die Eusss ausss dem Ghleiter ssserrte. Kharan uhnd isss waren unter dhem Whrack eingheklemmt.«

»Stimmt das?« entfuhr es Tally.

»Es ist die Wahrheit«, antwortete Karan.

»Ich... danke dir«, sagte Tally zögernd. Sie war verwirrt. Daß Angella ihr bei der ersten sich bietenden Gelegenheit die Kehle durchschnitt, konnte sie sich vorstellen. Aber daß sie ihr das Leben rettete...? Angella zuckte hörbar die Achseln. »Vergiß es«, sagte sie, während sie sich neben Tally auf den Boden hockte.

»Ich weiß selbst nicht genau, warum ich es getan habe. Wahrscheinlich«, fügte sie nach sekundenlangem Zögern hinzu, »weil es mir zu schnell gegangen wäre. Ich will dich leiden sehen, Süße.«

»Hör endlich auf«, murmelte Tally. Aber in ihrer Stimme war kein echter Zorn mehr. Eigentlich zum erstenmal, seit sie Angella kennengelernt hatte, kam ihr zu Bewußtsein, wie jung das Mädchen mit dem Narbengesicht noch war – nicht viel mehr als ein Kind. Ein mörderisches Kind vielleicht, aber trotzdem ein Kind. Möglicherweise hatte sie das Recht, so zu reagieren, einfach durch ihre Jugend. »Was ist das hier?« fragte sie, wieder an Karan gewandt. »Wenn wir uns schon nicht bewegen können, solange es dunkel ist, sollten wir die Zeit nutzen. Erklär uns, wo wir sind.«

»Im Schlund«, murmelte Karan niedergeschlagen.

Offenbar hatte er es aufgegeben, Tally und Angella zum Schweigen zu ermahnen. Trotzdem war in seiner Stimme ein Klang, der Tally alarmierte, obwohl sie ihn nicht einordnen konnte. »Karan weiß nicht genau, wo der Gleiter abstürzte. Der Flug war sehr schnell. Und er hat die Richtung verloren, als der Drache angriff.«

»Aber du findest sie wieder?«

»Natürlich«, antwortete Karan. »Sobald es hell ist. Wenn wir dann noch leben.«

Tally seufzte. Ein ganz kleines bißchen konnte sie Angella fast verstehen. Auch ihr begann Karans unablässiges Gerede von Tod und Sterben allmählich auf die Nerven zu gehen. Aber wahrscheinlich war es einfach seine Art, mit der Angst fertig zu werden.

»Sobald es hell ist«, sagte sie, »suchen wir Weller. Vielleicht lebt er noch.«

»Unmöglich!« widersprach Karan. »Selbst, wenn –«

»Der Wald hat unseren Aufprall gedämpft, oder?« unterbrach ihn Tally. »Warum soll er nicht ebensogut Weller aufgefangen haben?«

»Du kennst diesen Wald nicht«, sagte Karan. »Karan kennt ihn. Er weiß, wovon er spricht.«

»Gut«, sagte Tally. »Dann wird uns Karan ja auch helfen können, Weller wiederzufinden.«

Angella lachte leise. »Habe ich dir schon gesagt, daß du mir gefällst, Tallyschätzchen?«

»Ja«, grollte Tally. »Und wenn du mich noch einmal Tallyschätzchen oder Liebling oder Kleines nennst, befehle ich Hrhon, dir sämtliche Zähne einzuschlagen, Angellaliebling.«

Angella lachte erneut, sagte aber nichts mehr, und Tally wandte sich wieder an Karan. »Also? Was ist das hier? Wieso ist es so dunkel?«

»Der Wald«, antwortete Karan. »Er ist sehr dicht. An seinem Grunde herrscht immer Nacht. Doch ihr seid nicht dort.«

»Woher willst du das wissen?« fragte Angella. »Kannst du im Dunkeln sehen wie eine Katze?«

»Das kann Karan nicht«, erwiderte Karan beleidigt.

»Aber er kennt den Wald. Es gibt den Wipfel, das Dazwischen und den Boden. Der Boden tötet.«

»Die anderen Teile nicht?« fragte Angella spöttisch.

»Nicht so schnell«, erwiderte Karan ernst. »Manchmal wenigstens. Der Boden tötet sofort. Nichts lebt dort.«

»Gar nichts?« fragte Angella. »Auch nicht das, was tötet?« Sie lachte, bewegte sich im Dunkeln und stieß einen halblauten, erschrockenen Ruf aus. Ein dumpfes Knistern und Brechen war zu hören, dann die Geräusche von etwas Schwerem, das in die Tiefe stürzte und dabei unentwegt gegen Holz und Blattwerk schlug.

»Angella?« fragte Tally erschrocken.

»Ich bin noch da«, antwortete Angella. Ihre Stimme klang gepreßt. »Keine verfrühte Freude, Tally. So schnell wirst du mich nicht los.«

»Damit wäre die Frage beantwortet, wo wir sind«, sagte Tally ruhig. »Wir –«

»Sss!« zischte Hrhon. »Etwasss khohmmt!«

Sie erstarrten zur Reglosigkeit. Tally lauschte gebannt. Im ersten Moment hörte sie nichts außer dem dumpfen Rauschen ihres eigenen Blutes und den schnellen Atemzügen der drei anderen, aber sie wußte, daß der Waga über viel schärfere Sinne verfügte als ein Mensch, und verhielt sich weiterhin ruhig. Und nach einer Weile hörte sie es auch: Irgend etwas kroch durch die Baumwipfel. Etwas Großes, etwas sehr, sehr Schweres, das sich rücksichtslos Bahn brach, dem Splittern von Holz nach zu schließen.

Ihr Herz begann zu hämmern. Der Boden, auf dem sie hockte, vibrierte jetzt ganz sacht, und obwohl sie sich gegen die Erkenntnis zu wehren versuchte, mußte sie nach einer Weile gestehen, daß er im Rhythmus der Schritte – oder was immer es war – erzitterte.

Das unsichtbare Ding kam näher. Das Splittern wuchs zu einem ungeheuren Bersten und Krachen an, als walze eine ganze Armee von Hornbestien neben ihnen durch den Wald, und plötzlich spürte Tally einen scharfen, unendlich fremden Geruch, der bald so intensiv wurde, daß er zur Übelkeit reizte.

»Ein Läufer!« keuchte Karan plötzlich. »Bei allen Dämonen der Tie –«

Der Rest seiner Worte ging in einem urgewaltigen Splittern und Bersten unter. Tally fühlte sich wie von einer unsichtbaren Faust gepackt und in die Höhe gerissen. Dann streifte irgend etwas, das mindestens so groß sein mußte wie die Klippe den Baum, kippte ihn halb um und überlegte es sich im letzten Moment anders. Der Boden tief unter ihnen zitterte, und Tally spürte das machtvolle Aufstampfen von mindestens einem Dutzend Beinen.

Aber sie hatte noch einmal Glück. Nach einer Ewigkeit, die in Wahrheit wohl nur Sekunden gedauert hatte, wurde das Bersten und Krachen leiser; die Welt hörte auf, wie betrunken auf und ab zu schwanken. Trotzdem blieb Tally, an den erstbesten Halt geklammert und zur Reglosigkeit erstarrt, noch eine geraume Weile sitzen, ehe sie es wagte, wenigstens den Kopf zu heben.

»Hrhon?« fragte sie. »Alles in Ordnung?«

»Ja«, antwortete Hrhon – mit einer Stimme, die verriet, daß ganz und gar nichts in Ordnung war.

»Karan?«

»Karan lebt noch«, antwortete Karan. »Aber es war nur Glück.«

»Gut«, sagte Tally erleichtert. »Was... was war das, um Himmels willen?«

»Ein Läufer«, antwortete die Stimme aus der Dunkelheit. »Der größte Bewohner des Schlundes, den Karan kennt. Er und ihr hattet Glück. Sie sind gefährlich und böse, aber Menschen sind zu klein, eine lohnende Beute für sie zu sein.«

»Oh«, sagte Tally nur.

»Danke, ich lebe auch noch«, meldete sich Angella.

»Eure Sorge ist rührend, aber unbegründet.«

»Wovon leben die Läufer, wenn ein Mensch als Beute für sie zu klein ist?« fragte Tally vorsichtig.