Tib Arne ritt natürlich auf ihm. In ihrem Geist sah sie das wandelbare Gesicht des Jungen, zuerst Freund, dann Feind, zuerst menschlich, dann ein Schattenwesen. Sie konnte sein gewinnendes Lachen hören, die Hitze seines Atems auf ihrem Hals spüren, als er sie niederschlug, das Blut von seinen Schlägen in ihrem Mund schmecken...
Sie sah sich nach einem Versteck um und gab die Idee dann schnell wieder auf. Sie war bereits gesehen worden, und wo auch immer sie sich verbarg, würden sie sie finden. Sie konnte davonlaufen oder kämpfen – und sie war es müde, davonzulaufen.
Sie griff in ihre Tunika hinab und nahm die Elfensteine hervor. Sie wog sie in ihrer Hand, als könnte sie so das Gewicht ihrer Magie und auch im voraus den Ausgang des Kampfes bestimmen. Sie schaute zum Horizont im Westen, aber dort war nichts zu sehen, die Wälder waren noch immer unter dem Horizont verloren. Es würde ohnehin niemand nach ihr suchen – nicht so weit draußen und nicht bei Nacht. Sie biß die Zähne zusammen, dachte erneut an Garth und fragte sich, was er tun würde. Sie beobachtete, wie Gloon näher herankam, sich Zeit ließ und weich auf den Luftströmungen ritt. Er bewegte sich leicht und vertraute auf seine Kraft und sein Können und auf das, was er vollbringen konnte. Der Kampfhaubenwürger würde versuchen, sie beim ersten Vorüberfliegen zu ergreifen, dachte sie – schnell und entschlossen, bevor sie die Magie der Elfensteine einsetzen konnte. Und es würde nicht leicht sein, die Elfensteine gegen ein bewegliches Ziel einzusetzen.
Sie eilte über die Ebenen hinweg, um einen kleinen Hügel im Rücken zu haben. Besser als nichts, sagte sie sich, den Blick weiterhin auf Gloon gerichtet. Sie dachte an das, was der Kampfhaubenwürger Grayl angetan hatte. Sie fühlte sich klein und kalt und verletzlich und allein in der Weite des Graslands, wo nichts war, so weit sie sehen konnte, niemand, der ihr hätte helfen können. Dieses Mal gab es keinen Morgan Leah. Keinen Aufschub aus einer unerwarteten Quelle. Sie würde allein kämpfen müssen, und wie gut sie kämpfen würde – und wieviel Glück sie haben würde –, würde darüber entscheiden, ob sie leben oder sterben würde.
Ihre Hand umschloß die Elfensteine noch fester. Komm her, Gloon. Komm und sieh, was ich für dich habe. Der Kampfhaubenwürger schwang sich hinauf und stieß wieder herab, schwebte nach außen und wieder zurück und stieg in sorgloser Gleichgültigkeit auf und ab. Sie sah ihn als dunkle Bewegung vor dem blauen Samt des Himmels und wartete ungeduldig. Komm schon! Komm schon!
Dann fiel Gloon plötzlich wie ein Stein abwärts und war verschwunden.
Wren stürzte verwirrt nach vorn. Die Nacht breitete sich weit und dunkel und leer vor ihr aus. Was war geschehen? Sie spürte Schweiß ihren Rücken hinablaufen. Wo war der Haubenwürger geblieben? Er war sicherlich nicht selbst in die Erde geflogen, er würde sich nicht selbst in die Erde getrieben haben, das würde keinen Sinn ergeben...
Und dann erkannte sie, was vor sich ging. Gloon griff an. Er war auf eine Ebene mit dem Boden abgesunken, so daß sein Schatten nicht mehr zu sehen war, und er griff sie an. Wie schnell? Wie bald? Sie geriet in Panik und stolperte vor Angst rückwärts. Sie konnte ihn nicht sehen. Sie versuchte, den Haubenwürger vor dem dunklen Horizont auszumachen, konnte aber nichts sehen. Sie versuchte ihn zu hören, aber da war nur Stille.
Wo ist er? Wo...?
Nur ihr Instinkt rettete sie. Sie warf sich auf einen Impuls hin zur Seite und spürte das wuchtige Gewicht des Haubenwürgers an sich vorbeistreichen, während seine Klauen nur Zentimeter neben ihr die Luft zerrissen. Sie schlug um sich und rollte schnell fort, schmeckte Staub und Blut in ihrem Mund, spürte den Schmerz ihres verletzten Körpers erneut durch sich hindurchschießen.
Sie stand sofort wieder auf, wirbelte in die Richtung herum, in die der Haubenwürger, wie sie dachte, verschwunden war, rief die Magie der Elfensteine hervor und ließ sie als Fächer blauen Feuers in die Nacht hinausschießen. Aber das Feuer loderte in die Leere und traf nichts. Wren kauerte sich zusammen und durchforschte verzweifelt die mondbeleuchtete Schwärze. Er würde kommen –, aber sie konnte ihn nicht sehen! Sie hatte ihn aus den Augen verloren! Unter dem Horizont war er unsichtbar. Verzweiflung durchströmte sie. Aus welcher Richtung würde er kommen? Aus welcher Richtung?
Sie schlug wild um sich, nach rechts und nach links, warf sich zu Boden, rollte sich fort, stand wieder auf und schlug erneut zu. Sie hörte die Magie auf etwas auftreffen. Ein Schrei erklang, und dann hörte sie Gloon wuchtig vorüberstreichen, als der Haubenwürger zu ihrer Linken davonflog und wie Dampf zischte. Sie spähte zu dem Geräusch hinüber und wischte sich den Staub aus den Augen. Nichts.
Sie stand auf und rannte los. Sie zwang alle Gedanken an den Schmerz fort, lief über das leere Grasland zu einem Gewässer, das sie einige hundert Fuß entfernt entdeckt hatte. Sie erreichte es und tauchte aus dem Lauf heraus hinein. Sie hörte das jetzt schon vertraute Rauschen des Windes, und etwas Dunkles flog über sie hinweg. Gloon hatte sie gerade wieder knapp verfehlt. Sie drückte sich flach in das Gewässer und spähte nach oben. Der Mond war da, sonst nichts. Schatten! Sie kniete sich hin. Das Gewässer bot ihr ein gewisses Maß an Schutz, aber nicht annähernd genug. Und die Nacht war kein Freund, denn das Sehvermögen des Kampfhaubenwürgers war um ein Zehnfaches besser als ihr eigenes. Er konnte sie in dem Gewässer deutlich sehen, und sie konnte von ihm nichts erkennen.
Sie stand auf und ließ die Elfenmagie wirken. Vielleicht würde sie etwas treffen. Das Feuer schoß davon, glitt über die Ebenen, und sie spürte die Macht durch sich hindurchströmen. Sie schrie erregt auf, wußte wieder nicht, wie sie sich helfen sollte, sah den Kampfhaubenwürger nur Sekunden, bevor er ankam, auf sich zufliegen, wirbelte die Magie wild herum – zu spät – und warf sich erneut zu Boden. Aber ihre Schnelligkeit rettete sie, und das blaue Feuer der Elfensteine zwang den Kampfhaubenwürger, in letzter Minute die Richtung zu ändern, und so verfehlte er sie erneut.
Dieses Mal sah sie Tib Arne, einen kurzen Augenblick nur, als er vorüberstrich. Sie sah sein blondes Haar fliegen, hörte seinen wütenden und enttäuschten Schrei, und sie schrie zornig, höhnisch zurück.
Der Himmel wurde ruhig und das Land still. Sie kauerte sich zitternd und schwitzend in dem Gewässer zusammen und umklammerte die Elfensteine mit der Hand. Sie würde diesen Kampf verlieren, wenn sie nicht etwas unternahm, um das Ungleichgewicht zu ändern. Früher oder später würde Gloon Erfolg haben.
Dann hörte sie einen anderen Schrei, weit aus dem Westen, einen wilden Schrei, der die erstickende Stille durchbrach. Sie wandte sich ihm zu, konnte ihn jedoch erst nicht erkennen. Ein Vogel oder ein Rock? Der Schrei erklang erneut schnell und herausfordernd.
Spirit! Es war Spirit!
Sie beobachtete, wie sein dunkler Schatten aus der Nacht heranschoß. So schnell wie ein Gedanke kam er von hoch oben. Spirit, dachte sie – und das bedeutete Tiger Ty! Hoffnung durchströmte sie. Sie wollte sich erheben und einen Antwortschrei ausstoßen, legte sich dann aber schnell flach hin. Gloon war noch immer dort draußen und lauerte auf eine Gelegenheit, sie zu vernichten. Ihre Augen durchstreifen die Dunkelheit, aber sie suchten vergebens. Wo war der Haubenwürger?
Doch auf einmal erhob sich Gloon aus der Dunkelheit, um seinem neuen Herausforderer entgegenzutreten. Sie sah seinen wuchtigen schwarzen Körper, der an Geschwindigkeit gewann. Wren taumelte auf die Füße und stieß einen Warnruf aus. Spirit kam herab, drehte dann im letzten Moment ab, so daß der Kampfhaubenwürger vergeblich vorbeistrich, und wirbelte herum, um ihn zu jagen. Die Riesenvögel umkreisten einander vorsichtig, führten Scheinangriffe durch und wichen einander aus und kämpften darum, die Oberhand zu gewinnen. Wren biß die Zähne zusammen. Sie war so erdgebunden und hilflos! Gloon war jetzt größer als Spirit und darauf aus, ihn zu töten. Gloon war ein Schattenwesen und konnte außerdem Magie zur Unterstützung nehmen. Spirit war tapfer und schnell, aber welche Chance hatte er?