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Sie hatte erneut überlebt, dachte sie, und sie fragte sich, wie lange ihr das noch gelingen würde.

»Sie werden nicht siegen«, sagte sie plötzlich. »Das werde ich nicht zulassen.«

Er fragte sie nicht, was sie meinte. Er sprach überhaupt nicht. Er sah sie nur an und nickte einmal. Dann gab er Spirit mit einem Pfiff ein Zeichen, und der große Vogel stieg auf und trug sie schnell in die Dunkelheit davon.

29

Morgan Leah beobachtete, wie Wren im weichenden Nachtdunkel verschwand, seine Enttäuschung darüber, daß er nicht Par gefunden hatte, wurde von der Zufriedenheit gemildert, daß seine Bemühungen nicht umsonst gewesen waren. Welch ein Zufall, daß er ausgerechnet Wren gefunden hatte! Er kam zu dem Schluß, daß die Welt kleiner war, als sie schien, und daß die Kinder von Shannara deshalb vielleicht doch eine Chance gegen die Schattenwesen hatten.

Er wandte sich bald ostwärts, betrachtete den heller werdenden Horizont, das silbergraue Licht, das in trägen, breiter werdenden Bahnen durch die Baumspitzen und die Berghänge hinabströmte. Der Tagesanbruch überraschte ihn. Die Deckung der Nacht, die ihn geschützt hatte, war bereits fort, und er war in größerer Gefahr, als er gedacht hatte.

Er schaute kurz zu dem Gehäuse des umgestürzten Wagens und dem dunklen Gewirr der toten Schattenwesen hinüber und verspürte einen Moment Stolz. Er hatte sich gegen sie alle behauptet!

Aber wo sollte er hingehen? Die Schattenwesen in der Südwache würden anrücken. Es würde ihnen keine Probleme bereiten, seine Spur zu finden, und sie würden ihn aufspüren, und er würde dafür bezahlen müssen, was er getan hatte. Er atmete tief durch und schaute sich genauer um, ob er nicht einen Ausweg finden konnte. Er durfte nicht zu der Klippe zurückkehren. Das wäre der erste Ort, an dem sie ihn suchen würden. Sie würden seine Spur finden und seine Schritte zurückverfolgen und hoffen, daß er dumm genug wäre, dorthin zurückzukehren, wo er sich verborgen gehalten hatte, wo auch immer das war.

Er lächelte schwach. Er war natürlich nicht so dumm, aber es war keine schlechte Idee, sie glauben zu machen, daß er es wäre.

Er überquerte die Engstelle, durch die er zuerst gekommen war, und ging auf seiner Spur durch die Bäume und über die Hügel wieder zurück, ohne sich die Mühe zu machen, seine Abdrücke zu verwischen. Statt dessen brachte er sie so durcheinander, daß verborgen blieb, wie viele von ihm da waren. Schließlich wandte er sich um und ging erneut zurück, diesmal allerdings vorsichtiger, denn die Schattenwesen waren in seiner Abwesenheit vielleicht bereits angekommen. Sie waren jedoch noch nicht da. Die Engstelle und die dahinterliegenden Ebenen waren leer bis auf die Toten. Er ging den Weg zurück, auf dem der Wagen hereingekommen war, und benutzte die Wagenspur, um seine Stiefelabdrücke zu verbergen. Er folgte ihr mehrere Meilen durch die Hügel, bevor er sich abrupt nordwärts dem hohen Gras zuwandte und vorsichtig in die Felsen eines Berggrates vordrang. Wenn er Glück hatte, fanden sie die Stelle nicht, an der er die Wagenspur verlassen hatte, und waren gezwungen, das Land weiträumig zu durchsuchen. Das würde ihm die zusätzliche Zeit verschaffen, die er brauchte, um dorthin zu gelangen, wohin er gehen wollte.

Natürlich war das alles bedeutungslos, wenn die Schattenwesen eine Spur nach dem Geruch finden konnten. Wenn sie wie Tiere jagen konnten, dann war er auf jeden Fall in Schwierigkeiten, außer wenn er sich vielleicht im Schlamm wälzte und übelriechende Pflanzen anwandte, und darauf war er nicht vorbereitet. Was sonst konnten die Schattenelfen tun? Er wünschte, er wüßte mehr über sie, wünschte, er hätte sich die Zeit genommen, Wren danach zu fragen, aber das half jetzt nichts. Er würde es ausprobieren müssen. Er atmete die Morgenluft und dachte, wie glücklich er war, daß er die Magie des Schwertes von Leah als Schutz hatte, erkannte dann aber, daß er eine Antwort auf seine Frage bekommen hatte, ob die Macht ihn retten oder verschlingen würde. Natürlich bedeutete das nicht, daß er mit ihr sicher war und daß er sich bei ihrem Gebrauch entspannen konnte, daß er auch nur sicher sein konnte, daß sich die Dinge beim nächsten Mal genauso entwickeln würden. Es bedeutete nur, daß er im Moment überlebt hatte, aber es wurde zunehmend deutlicher, daß das Überleben, egal zu welchen Bedingungen, das Beste war, was er – was jeder von ihnen – im Kampf gegen die Schattenwesen erhoffen konnte.

Eines Tages wird es anders sein, sagte er sich, aber insgeheim fragte er sich, ob das wirklich stimmte.

Das Land vor ihm verengte sich zu einer Ansammlung von Hügeln und Graten, von Senken, die mit Gestrüpp überwuchert waren, und dichten Wäldern, die sich an den Runne anlehnten. Er bewegte sich auf Felsgestein, nahm sich Zeit, versuchte, leicht aufzutreten, damit nicht lose Steine und herabgebogene Zweige unter seinem Schritt nachgaben. Er hatte folgendes überlegt: Im Süden lag die Klippe, auf der er Wache gehalten hatte, und die Schattenwesen würden dort beginnen, wenn sie ihn jagten. In den Westen war Wren geritten, und dort würden sie ihn sicherlich auch jagen. Im Norden lagen die Städte Callahorns – Tyrsis, Kern und Varfleet –, und das war eigentlich die nächste logische Wahl. Der letzte Ort, an dem sie suchen würden, war das Land, das im Osten die Südwache, ihre Festungszitadelle, umgab, denn es würde ihnen wenig wahrscheinlich erscheinen, daß jemand, der gerade eine ihrer Patrouillen vernichtet hatte, um die Königin der Elfen zu retten, an denselben Ort eilen würde, den die Patrouille angestrebt hatte.

Königin der Elfen, sann er und unterbrach damit seine Gedanken. Wren Elessedil. Kleine Wren. Er schüttelte den Kopf. Er hatte sie kaum gekannt, als sie noch mit Par und Coll ihre Kindheit verbrachte. Es war schwer zu glauben, wer sie jetzt war.

Er verzog das Gesicht. Das traf natürlich auf sie alle zu, dachte er wehmütig, und er ließ das Thema achselzuckend fallen.

Die Sonne stand jetzt über dem Horizont. Die Schatten der Nacht hatten sich wieder in ihre Verstecke verzogen, die Schwüle der Sommerhitze stieg durch das Gras und die Bäume auf. Die Luft waberte übelriechend um ihn herum, und die Erde zu seinen Füßen stob zu Staubwolken auf. Morgan traf auf einen Fluß, folgte ihm bis zu einer Stromschnelle, an der das Wasser klar war, und trank. Er hatte weder Nahrung noch Wasser bei sich, und er würde sich beides besorgen müssen, wenn er überleben wollte. Er dachte einen Augenblick an Damson und Matty und hoffte, daß sie nicht gerade diesen Tag für ihre Rückkehr von der Suche im Süden ausgewählt hatten. Sie würden ihn auf jener Klippe erwarten, würden dort aber statt dessen wahrscheinlich Schattenwesen vorfinden. Kein erfreulicher Gedanke. Er mußte sie warnen, aber dafür mußte er erst einmal am Leben bleiben.

Er ließ den Fluß hinter sich und strebte höher gelegenen Landstrichen zu. Aus dem Schutz eines Kiefernhaines heraus schaute er über die Hügel gen Süden zurück und suchte die Landschaft nach Anzeichen einer Verfolgung ab. Er blieb lange Zeit dort und beobachtete das Land. Nichts zeigte sich. Schließlich ging er weiter und zog östlich auf die Berge und den Fluß und die Südwache zu. Er befand sich oberhalb der Zitadelle, ausreichend tief in den schützenden Bäumen, daß er nicht gesehen wurde, aber ausreichend nah, um den Kontakt nicht zu verlieren. Er kam trotz seiner Wunde stetig voran, denn der Schmerz war nur noch ein dumpfes Pochen, das er in sein Unterbewußtsein abgeschoben hatte. Er arbeitete sich mit der Erfahrung und Entschlossenheit eines geübten Waldbewohners voran. Er konnte spüren, was um ihn herum geschah, und konnte sich als Teil dieses Landes fühlen. Er lauschte auf die Geräusche der Vögel und Tiere, erspürte, wie es ihnen erging, und wußte, daß alles in Ordnung war.

Der Tag näherte sich dem Mittag, und noch immer gab es keinerlei Anzeichen für eine Verfolgung. Er begann zu hoffen, daß er vielleicht vollständig entkommen war. Er fand Früchte und wilde Kräuter, auf denen er kauen konnte, und weiteres Trinkwasser, und als er die Wand des Runne erreichte, wandte er sich erneut gen Süden. Er verlagerte das Schwert von Leah, um den Druck von seiner Wunde zu nehmen, und dachte an seine Vergangenheit. So viele Jahre der Ruhe, ein Relikt einer anderen Zeit, in der seine Magie bis zu seiner Begegnung mit den Schattenwesen während seiner Reise nach Culhaven vergessen war. Zufall, nichts weiter. Seltsam, wie sich die Dinge entwickelten. Er dachte über die Wirkung nach, die das Schwert auf sein Leben gehabt hatte, daran, wie es sowohl für als auch gegen ihn gearbeitet hatte, an die Hoffnung und die Verzweiflung, die es ihm auferlegt hatte. Er dachte, daß es nicht mehr wichtig war, ob er es guthieß oder nicht, ob er grübelte, ob seine Verbindung mit der Magie eine gute oder eine schlechte Sache sei, weil es im nachhinein schließlich nicht wichtig war – die Magie war einfach. Quickening, dachte er, hatte diese Unvermeidlichkeit klarer erkannt als er, und sie hatte das Schwert geheilt, weil sie gewußt hatte, daß die Magie ihm ganz gehören mußte, wenn sie die seine sein sollte, und nicht nur eingeschränkt oder fehlerhaft. Quickening hatte verstanden, wie das Spiel gespielt wurde. Ihr Vermächtnis war es gewesen, daß sie ihm die Regeln beigebracht hatte.