Er überquerte einen Grat, als er einen Schatten in den Bäumen über einer gestrüppüberwucherten Schlucht weit vor sich sah. Der Schatten war im Handumdrehen da und wieder fort, und er hatte den Eindruck, daß er ihn eher gespürt als gesehen hatte. Aber es gab keinen Zweifel darüber, was er war, und er kauerte sich ganz zusammen und bahnte sich seinen Weg in das dichte Gebüsch zu seiner Rechten und stieg höher in die Felsen hinein. Einer von ihnen, schloß er – nur einer. Ein einsamer Jäger. Der Schweiß auf seinem Gesicht und Hals ließ seine Haut warm und klebrig werden, und seine Rückenmuskeln waren so verkrampft, daß sie schmerzten. Er spürte seine Wunde wieder pochen und sehnte sich nach einem Schluck Bier, um seine verdorrte Kehle zu befeuchten. Er merkte, daß der Weg hinauf von einer Klippenwand blockiert war, und wandte sich widerwillig um. Er hatte das Gefühl, daß er getrieben wurde, und er bekam Angst, daß er allmählich überall Wände finden würde.
Er hielt am Rande eines Abgrunds inne und schaute zu den von Samt umhüllten Bäumen zurück. Nichts bewegte sich, aber dennoch war dort etwas, das mit stetiger Behutsamkeit herankam. Morgan überlegte, ob er sich auf die Lauer legen sollte. Aber jegliche Art von Kampf würde die anderen Schattenwesen im Wald anlocken. Es war besser, wenn er weiterging. Später konnte er immer noch kämpfen.
Die Bäume vor ihm wurden lichter, während immer mehr Felsen hervorbrachen und die Hänge zu jähen Klippen abfielen. Er war so hoch hinaufgelangt, wie er kommen konnte, ohne den Schutz der Bäume zu verlassen, und es war noch immer kein Paß zu sehen, der durch die Berge hindurchgeführt hätte. Er dachte, er könnte das Geräusch des irgendwo jenseits der Felswand vorbeiströmenden Flusses hören, aber das war vielleicht auch nur Einbildung. Er fand einen Hain dichter Nadelbäume, suchte darin Schutz und lauschte auf den Wald um sich herum. Vor ihm und jetzt auch unter ihm waren Bewegungen spürbar. Die Schattenwesen waren überall um ihn herum. Sie mußten seine Spur gefunden haben. Es war noch immer hell genug, um einer Spur zu folgen, und sie kamen auf ihn zu. Sie würden ihn vielleicht nicht einholen, bevor es zu dunkel wurde, um seinen Fußabdrücken folgen zu können, aber er glaubte nicht, daß das noch wichtig war, wenn sie nun schon so nah waren. Ihnen war die Dunkelheit vertrauter als ihm, und es war sicher nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn erwischten.
Es war das erste Mal, daß er sich den Gedanken erlaubte, daß er vielleicht nicht entkommen würde.
Er griff nach hinten und zog sein Schwert hervor. Die Obsidianklinge schimmerte matt in dem dämmerigen Zwielicht und lag tröstlich in seiner Hand. Er stellte sich vor, spüren zu können, wie ihre Magie mit geflüsterten Versicherungen, daß sie da sein würde, wenn er sie riefe, auf ihn reagierte. Sein Talisman gegen das Dunkle. Er senkte den Kopf und schloß die Augen. Hatte das alles nur dazu geführt? Zu einem weiteren Kampf in einer endlosen Reihe von Überlebenskämpfen? Er war dies alles so leid. Er konnte nicht anders, er mußte so denken. Er war müde, und sein Herz war schwer.
Laß es sein!
Er öffnete die Augen, erhob sich und ging durch die Bäume weiter, erneut gen Süden auf die Ebenen zu, die zur Südwache hinabführten. Er hatte seine Meinung geändert. Er fühlte sich besser, wenn er sich bewegte, als sei die Bewegung natürlich und könnte ihn auf irgendeine Weise schützen. Er glitt durch den Wald hinab, wählte sehr sorgfältig seinen Wieg und lauschte auf jene, die ihn fangen wollten. Schatten bewegten sich um ihn herum, er sah sie als leichte Veränderungen des Lichts, kleine Bewegungen, die sein Herz heftig schlagen ließen. Irgendwo in der Ferne schrie sanft eine Eule. Der Wald war wie eine schimmernde und sich wandelnde Strömung in einem langsamen, stetigen Fluß.
Auf der Suche nach dem einsamen Jäger hinter ihm schaute er wiederholt zurück, aber er sah nichts. Die Schattenwesen vor ihm waren genauso unsichtbar, und er dachte, daß sie vielleicht genausowenig wie der andere wußten, wo er war. Er hoffte, daß sie nicht ihre Gedanken austauschen konnten, aber er hätte auch nicht dagegen gewettet. Es schien nur wenige Beschränkungen für die Magie zu geben, die sie führte. Aber das war falsches Denken, schalt er sich. Es gab immer Beschränkungen. Er mußte herausfinden, welcher Art sie waren.
Er erreichte eine Gruppe Zedern, die vor einer Klippe wuchs, und kauerte sich zwischen ihnen erneut zusammen, um zu lauschen. Er blieb einige Minuten lang so still wie der Fels hinter ihm und hörte nichts. Aber die Schattenwesen waren noch immer dort draußen, das wußte er. Sie suchten noch immer nach ihm...
Und dann sah er sie. Zwei von ihnen waren ganz nah und strichen nur einige hundert Fuß unter ihm durch die Bäume. Und dann sah er die Schatten in ihren schwarzen Umhängen auf sein Versteck zukommen. Er spürte, wie sein Mut sank. Wenn er sich jetzt bewegte, würden sie ihn sehen. Wenn er blieb, wo er war, würden sie ihn finden. Welch großartige Auswahl, dachte er verbittert. Er hielt noch immer das Schwert von Leah in den Händen und festigte jetzt seinen Griff. Er würde ihnen entgegentreten und kämpfen müssen. Er würde es tun müssen, obwohl er wußte, wie es wahrscheinlich enden würde.
Er dachte zurück an den Jut, an Tyrsis, Eldwist, Culhaven und an all die anderen Orte, an denen er gefangengenommen und bestraft worden war, wenn er zu fliehen versucht hatte, und er dachte verzweifelt und verärgert, daß dies nur einmal...
Und dann legte sich plötzlich eine Hand wie eine Eisenklammer über seinen Mund, und er wurde nach hinten in die Bäume gerissen.
30
Die Dämmerung überzog das Land südlich des Regenbogensees mit purpurfarbenem und silbernem Dunst, der wie eine Katze aus dem Anar herankroch, um einen feurigen Sonnenuntergang gen Westen in die Black Oaks und die Gebiete dahinter zu jagen. Das Zwielicht war weich und seidig, während es die Schwüle des Tages mit einer Brise milderte, die tröstlich und kühl aus dem tiefen Wald heranwehte. Farmen, die das Land oberhalb des Battlemound sprenkelten, waren in eine Mischung aus Schatten und Licht gebadet und erinnerten an alte Gemälde. Tiere hatten ihre Gesichter der Brise zugewandt und standen regungslos vor den schattigen grünen Weiden. Knechte und Gehilfen kamen von der Arbeit herein, Wasser plätscherte in die Waschgefäße, und der Geruch von Essen zog vom Herd heran. Gelassene Heiterkeit lag in den Schatten und Erleichterung in der abkühlenden Luft. Stille sammelte sich und tröstete und versprach Ruhe für jene, die einen weiteren Tag zu Ende gebracht hatten.
In einem Hartholzhain nördlich des Battlemound erhob sich auf einem kleinen Hügel am Rande des Anar Rauch aus einem zerfallenen Schornstein. Er gehörte zu der Hütte eines alten Jägers, die aus vier splitternden Holzwänden bestand und vom Wetter und der Zeit gezeichnet war. Ihr Schindeldach war löcherig und verwahrlost, die überdachte Veranda an einem Ende war abgesackt und der Brunnen aus Stein in die tiefsten Schatten der Bäume zurückgewichen. Ein Wagen stand nahe bei der Hütte, und das Gespann von Maultieren, das ihn gezogen hatte, war an einem Halteseil am Rande der Bäume angepflockt worden. Die Männer, denen beides gehörte, waren im Innern versammelt und saßen an einem Tisch beim Essen, während einer auf den Stufen der Steinveranda Wache hielt und das Tal südlich und östlich beobachtete. Sie waren insgesamt fünf mit dem, der draußen wachte, und sie waren einfache und schmutzige Männer mit harten Gesichtern. Sie trugen Schwerter und Messer und waren mit Narben aus vielen Kämpfen gezeichnet. Wenn sie sprachen, klangen ihre Stimmen rauh und laut. Und wenn sie lachten, fehlte ihnen jede Fröhlichkeit.
Sie schauten nicht zu Damson Rhee und Matty Roh hinüber und verhielten sich auch nicht wie jemand, der Grund gehabt hätte, sich sehr genau umzusehen.
Die Frauen kauerten an einer Stelle im Westen, an der Gebüsch ihre Bewegungen abschirmte, und sahen einander an.