»Du kannst vielleicht am besten dienlich sein, indem du zurückgehst«, bemerkte Desidio unerbittlich.
Tib blinzelte und wirkte verwirrt. »Aber... aber ich will nicht zurückgehen!« brach es impulsiv aus ihm heraus. Plötzlich schien er so jung zu sein, wie er aussah. »Ich möchte hierbleiben. Es wird etwas geschehen, nicht wahr? Ich möchte daran teilhaben.« Er schaute schnell zu Wren. »Ihr seid Elfen, meine Königin, und niemand hat jemals zuvor Elfen gesehen! Ich... ich war nicht die erste Wahl für diese Reise. Ich mußte lange argumentieren, um diese Aufgabe übertragen zu bekommen. Schickt mich nicht sofort weg. Ich kann auf irgendeine Weise helfen, ich weiß, daß ich es kann. Bitte, meine Königin? Ich bin einen langen Weg hierhergekommen, um Euch zu finden. Laßt mich eine Weile bleiben.«
»Und Gloon vermutlich auch?« Sie lächelte.
Er lächelte augenblicklich zurück. »Oh, Gloon wird im Verborgenen bleiben, bis er gerufen wird.« Er warf seine Hand hoch und der Kampfhaubenwürger schoß aufwärts und verschwand. Tib sah ihm nach und sagte: »Er sorgt überwiegend für sich selbst.«
Wren sah Desidio an, der zweifelnd den Kopf schüttelte. Tib schien es nicht zu sehen, denn sein Blick war noch immer zum Himmel gerichtet.
»Tib, warum gehst du nicht etwas essen und dann zu Bett«, rief Wren. »Über alles andere werden wir morgen früh reden.«
Der Junge sah sie an, blinzelte, unterdrückte ein Gähnen, nickte und trottete pflichtgemäß hinter Desidio her davon. Tiger Ty kam an ihnen vorbei, als er mit einem Teller mit Essen vom Herdfeuer herannahte, und warf einen scharfen Blick auf den Jungen zurück, als er Wren erreicht hatte.
»War das ein Kampfhaubenwürger, den ich da gesehen habe?« grollte er. »Ekelhafte Vögel sind das. Kaum zu glauben, daß dieser Junge einen abrichten konnte. Die meisten von ihnen würden jedem den Kopf abreißen, sobald sie ihn erspäht haben.«
»So gefährlich?« fragte Wren interessiert.
»Mörder«, antwortete der Flugreiter. »Jagen alles, sogar eine Moorkatze. Ich weiß nicht, wie ihnen jemand entkommen kann, wenn sie ihn erst aufgestöbert haben. Es kursiert das Gerücht, daß sie in früheren Zeiten dazu benutzt wurden, Menschen zu jagen – ausgesandt wie gedungene Mörder. Klug und grausam.« Er schüttelte den Kopf. »Ekelhaft, wie ich bereits sagte.«
Sie sah Triss an. »Vielleicht sollten wir ihn dann nicht um uns haben wollen.«
Tiger Ty wandte sich zum Gehen. »Ich würde es nicht wollen.« Er streckte sich. »Zeit zu schlafen. Die anderen sind vor einer Stunde gekommen, falls Ihr es nicht gesehen habt. Wir werden die Lage morgen früh erneut auskundschaften. Gute Nacht.«
Er schlenderte in die Dunkelheit davon, gebeugt, krummbeinig, von einer Seite zur anderen schaukelnd wie ein altes Möbelstück, das im Vorübergehen angestoßen wurde. Wren und Triss schauten ihm schweigend nach. Als er fort war, sahen sie einander an.
»Ich werde Tib zurückschicken«, sagte sie.
Triss nickte. Danach sprachen sie beide nicht mehr.
Wren schlief am Rande des Feuerscheins. Sie war in ihre leichte Wolldecke eingerollt und träumte von Dingen, die so schnell vergessen wurden, wie sie vorbei waren. Zweimal wachte sie von den Geräuschen der Nacht auf, von leisem Zwitschern und Summen, leichten Bewegungen im Gestrüpp und dem Rascheln von unsichtbaren Wesen in den Zweigen der Bäume weit über ihr. Es war warm, und die Luft war still, und das sorgte nicht gerade für einen erholsamen Schlaf. Die Bürgerwehr schlief um sie herum, und Triss war weniger als ein Dutzend Fuß entfernt. Am Rande ihres Sichtfelds sah sie andere patrouillieren, vage Schatten vor der Dunkelheit. In ihrer Armbeuge rührte sich Faun unruhig. Die Nacht schlich sich davon, und sie schwamm träge durch den Schlaf und das Erwachen.
Sie richtete sich gerade auf einen weiteren Versuch ein, tiefen Schlaf zu finden, denn der tiefste Teil der Nacht war erreicht, als direkt vor ihr ein stacheliges Gesicht auftauchte. Sie sah erschrocken hoch.
»Hssst! Ruhig, Wren Elessedil!« sagte eine vertraute Stimme.
Eilig richtete sie sich auf einen Ellenbogen auf. »Stresa!«
Faun quietschte, als er ihn wiedererkannte, und der Stachelkater zischte ihm zu, er solle ruhig bleiben. Er kam nahe heran, setzte sich zurück und sah sie mit seinen seltsamen, blauen Augen an. »Es schien keine phhttt gute Idee, dich allein hinausziehen zu lassen.«
Sie lächelte wider Willen. »Du hast mich fast zu Tode erschreckt! Wie bist du denn an den Wachen vorbeigekommen?«
Die Zunge des Stachelkaters fuhr heraus, und sie hätte schwören können, daß er lächelte. »Nun aber wirklich, Elfenmädchen. Sie sind nur Menschen. Sssstt! Wenn du mir eine Herausforderung stellen willst, phfftt, dann bring mich wieder nach Morrowindl.« Seine Augen blinzelten schimmernd. »Wenn ich noch mal darüber nachdenke, dann tu es lieber nicht. Es gefällt mir hier in deiner Welt.«
Wren barg Faun an ihrem Körper, als der Baumschreier sich fortzuwinden versuchte. »Ich bin froh, daß du hier bist«, sagte sie zu Stresa. »Ich mache mir manchmal Sorgen um dich.«
»Sorgen um mich! Phaagg! Warum denn? Nach Morrowindl kann mich nichts mehr erschrecken. Dies ist eine gute Welt, in der du lebst, Wren von den Elfen.«
»Aber dort, wo wir hingehen, ist es nicht so gut. Weißt du davon?«
»Hssstt. Ich habe davon gehört. Noch mehr von den dunklen Wesen, dieselben wie die auf Morrowindl. Aber wie böse sind diese, Elfenmädchen? Sind es Wesen wie der rrowwwll Wisteron?«
Die Nase des Stachelkaters war feucht und glitzerte im Sternenlicht. »Nein«, antwortete sie. »Zumindest noch nicht. Dieses sind Menschen, aber sie sind so viele mehr als wir, und sie sind entschlossen, uns zu vernichten.«
Stresa dachte einen Moment darüber nach. »Dennoch, besser als die Monster.«
»Ja, besser.« Sie atmete seufzend die heiße Nachtluft ein. »Aber einige von diesen Menschen sind auch Monster.«
»Also ändert sich nichts, nicht wahr?« Der Stachelkater schüttelte seine Stacheln und erhob sich. »Ich werde dir nahe sein, hssttt, aber du wirst mich nicht sehen. Wenn du mich brauchst, werde ich jedoch, phhfftt, da sein.«
»Du könntest bleiben«, schlug sie vor.
Stresa spie aus. »Im Wald bin ich glücklicher. Und auch sicherer. Rowwlll. Du wärst auch sicherer, aber du wirst nicht gehen. Deine Augen, das werde ich sein müssen. Hssstt! Was ich sehe, wirst du als erste erfahren.« Die Zunge fuhr heraus. »Paß auf dich auf, Wren Elessedil. Vergiß die Lektionen von Morrowindl nicht.«
Sie nickte. »Das werde ich nicht.«
Stresa wandte sich zum Gehen. »Schick mir den Baumschreier, ssttt, wenn du mich brauchst«, flüsterte er zurück, und dann war er fort.
Sie sah ihm in der Dunkelheit eine Weile lang nach, und hielt Faun in ihren Armen klein und warm geborgen. Schließlich legte sie sich erneut zurück, lächelte und schloß die Augen. Sie fühlte sich besser, seit sie wußte, daß der Stachelkater für sie da war.
Innerhalb von Sekunden war sie erneut eingeschlafen. Erst am Morgen wachte sie wieder auf.
17
Bei Tagesanbruch machte sich die Vorhut der Elfenarmee zum Aufbruch bereit. Wren rief Tib Arne zu sich und teilte ihm mit, daß sie ihn zu den Geächteten zurückschicken wollte, um sicherzustellen, daß diese erfuhren, daß er sie gefunden hatte, und damit er sie dazu drängte, so schnell wie möglich zu kommen. Sie versicherte, daß es wichtig sei, daß er zurückginge, denn sonst wäre sie seiner Bitte, zu bleiben, sicher nachgekommen. Sie sagte ihm, er könne gern zurückkehren, wenn die Botschaft überbracht sei. Tib schmollte ein wenig und zeigte deutlich seine Enttäuschung, aber schließlich stimmte er zu, daß sie recht hätte, und versprach, sein Bestes zu tun, damit die Geächteten bald zu Hilfe eilten. Desidio gab ihm zwei Elfenjäger als Eskorte mit – trotz seiner wiederholten Einwände, daß er niemanden brauche –, und das Trio machte sich durch das Tal auf den Weg zu den Streleheimebenen. Gloon zeigte sich nicht, und Wren war recht froh darüber.