»Mach dir keine Gedanken, Tib«, tröstete sie ihn und legte ihre Hand auf seine Schulter. »Du hast dein Bestes getan. Es tut mir leid wegen Gloon.«
»Ich weiß«, murmelte er und faßte sich wieder.
»Du wirst jetzt hier bei uns bleiben«, sagte sie zu ihm. »Wir werden eine andere Möglichkeit finden, die Geächteten zu informieren, und wenn nicht, werden wir einfach darauf warten, daß sie uns finden.«
Sie ließ Nahrung und Getränke für den Jungen bringen, wickelte ihn in eine Wolldecke und zog dann Tiger Ty und Triss beiseite. Sie standen unter einer hoch aufragenden Eiche, durch deren Laubwerk das Licht vom wolkenverhangenen Himmel schwach und grau sickerte.
»Was denkt Ihr?« fragte sie sie.
Triss schüttelte den Kopf. »Es waren erfahrene Männer, die den Jungen begleitet haben. Sie hätten eigentlich nicht unvorbereitet überrascht werden können. Ich denke, sie hatten entweder großes Pech, oder der Junge hat recht, und es hat bereits jemand auf sie gewartet.«
»Ich werde Euch sagen, was ich glaube«, sagte Tiger Ty. »Ich glaube, es ist sogar dann sehr schwer, einen Kampfhaubenwürger zu töten, wenn man ihn sieht, ganz zu schweigen davon, wenn man ihn nicht sehen kann.«
Sie sah ihn an. »Was wollt Ihr damit sagen?«
Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. »Es bedeutet, daß mich an alledem etwas stört. Glaubt Ihr nicht, daß dieser Junge eine seltsame Wahl war, um uns Nachricht von den Geächteten zu bringen?«
Sie sah ihn einen Moment schweigend an und dachte darüber nach. »Er ist jung, ja. Aber gerade darum fällt er wahrscheinlich weniger auf. Und er scheint selbstbewußt genug zu sein.« Sie hielt inne. »Ihr traut ihm nicht, Tiger Ty?«
»Das will ich nicht sagen.« Er furchte angestrengt die Brauen. »Ich denke nur, wir sollten vorsichtig sein.«
Sie nickte, denn sie wußte es besser, als daß sie Tiger Tys Verdacht abgetan hätte. »Triss?«
Der Hauptmann der Bürgerwehr zog an den Verbänden um seinen gebrochenen Arm. Die Schlinge war gestern vor dem Angriff abgenommen worden, und nur ein Paar schmale Schienen an seinem Unterarm war geblieben.
Er schaute nicht auf, während er ein loses Band wieder festzog. »Ich glaube, Tiger Ty hat recht. Es schadet nichts, vorsichtig zu sein.«
Sie verschränkte die Arme. »In Ordnung. Bestimmt jemanden, der auf ihn achten soll.« Sie wandte sich Tiger Ty zu. »Ich möchte, daß Ihr etwas Wichtiges für mich erledigt. Ich möchte, daß Ihr dort weitermacht, wo Tib aufgehört hat. Nehmt Spirit und fliegt gen Osten. Seht zu, ob Ihr die Geächteten finden könnt und führt sie hierher. Nur für den Fall, daß sie Schwierigkeiten haben, uns zu erreichen. Dafür braucht Ihr vielleicht mehrere Tage, und Ihr müßt sie ausfindig machen, ohne daß wir Euch helfen können. Ich kann Euch nicht einmal sagen, wo Ihr mit der Suche anfangen sollt. Aber wenn es fünftausend Geächtete sind, sollten sie nicht schwer zu finden sein.«
Tiger Ty runzelte erneut die Stirn. »Es gefällt mir nicht, daß ich Euch verlassen soll. Schickt jemand anders.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das müßt Ihr tun. Bei Euch kann ich mich darauf verlassen, daß die Suche erfolgreich sein wird. Macht Euch um mich keine Sorgen. Triss und die Bürgerwehr werden mich beschützen. Es wird mir gutgehen.«
Der knorrige Flugreiter schüttelte den Kopf. »Es gefällt mir nicht, aber ich werde gehen, wenn Ihr es befehlt.«
Da es auch möglich war, daß er Par oder Coll Ohmsford oder Walker Boh oder auch Morgan Leah auf seiner Reise traf, gab sie ihm eine kurze Beschreibung von jedem einzelnen und nannte ihm eine Möglichkeit, wie er sicher sein konnte, wer sie waren. Als sie geendet hatte, gab sie ihm die Hand und wünschte ihm Glück.
»Seid vorsichtig, Wren von den Elfen«, warnte er rauh und hielt ihre Hand einen Moment lang fest in der seinen geborgen. »Die Gefahren dieser Welt sind denen Morrowindls nicht allzu unähnlich.«
Sie lächelte und nickte, und dann war er fort. Sie beobachtete, wie er einige Vorräte und Decken zusammenpackte, sie auf Spirit befestigte, hinaufkletterte und in das Grau entschwebte. Sie schaute noch lange Zeit, nachdem er außer Sicht geraten war, himmelwärts. Die Wolken wurden dunkler. Es würde bei Einbruch der Nacht regnen.
Wir werden besseren Schutz brauchen, dachte sie. Wir werden weiterziehen müssen.
»Ruft Desidio herüber«, befahl sie Triss.
Ein ausreichend heftiger Regen würde das ganze Grasland, auf dem die Föderation lagerte, in Schlamm verwandeln. Es war vielleicht eine unbegründete Hoffnung, aber sie konnte nicht umhin, daran zu denken.
Gebt uns nur eine Woche Zeit, bat sie, den Blick auf das aufgewühlte Grau gerichtet. Nur eine Woche.
Der erste Regentropfen platschte auf ihr Gesicht.
Die Elfenvorhut sammelte sich, packte und zog sich unter die dichten Bäume des Waldes von Drey zurück, um dort das Ende des Sturms abzuwarten. Es begann heftiger zu regnen, als der Tag dem Ende zuging, und in der Dämmerung goß es in Strömen. Die Flugreiter hatten ihre Rocks weitab von den Pferden angepflockt, und die Männer hatten Segeltuch zwischen die Bäume gespannt, um sich und ihren Proviant trockenzuhalten. Die Patrouillen waren bis auf den Meldetrupp, der nach Arborlon ziehen sollte, zurückgekehrt und hatten berichtet, daß es keinerlei Anzeichen irgendeiner weiteren Föderationsstreitmacht gab.
Sie aßen eine warme Mahlzeit, da der Rauch vom Regen verschluckt wurde, und zogen sich dann zum Schlafen zurück. Wren spielte Dutzende von Möglichkeiten durch, was als nächstes geschehen könnte, und dachte, sie würde noch stundenlang wachliegen, aber sie schlief fast sofort ein. Ihr letzter Gedanke galt Triss und der Bürgerwehr, die nahe bei ihr Wache hielten.
Als sie erwachte, regnete es noch immer genauso beständig wie am Abend zuvor. Der Himmel war bewölkt, und die Erde war durchweicht und verwandelte sich in Schlamm. Es regnete den ganzen Tag lang und auch noch am Morgen des nächsten Tages. Kundschafter zogen aus, um den Standort der Föderationsarmee zu erkunden, und kehrten mit der Nachricht zurück, daß sie nicht weitergezogen war. Wie Wren gehofft hatte, war das Grasland sumpfig und trügerisch geworden, und die Soldaten der Südlandarmee hatten ihre Kragen hochgeschlagen und warteten den Sturm ab. Sie erinnerte sich an Tiger Tys Warnung, nicht fälschlicherweise zu glauben, daß die Föderation, nur weil sie nicht weiterzog, untätig blieb, aber das Wetter war so schlecht, daß die Flugreiter nicht starten wollten, und es war wenig zu erkennen, solange sie auf dem Boden blieben.
Von Arborlon traf die Nachricht ein, daß die Hauptmacht der Elfenarmee noch immer mehrere Tage brauchen würde, bevor sie ihren Marsch nach Süden beginnen konnte. Wren knirschte enttäuscht mit den Zähnen. Das Wetter war auch den Elfen nicht wohlgesonnen.
Sie verbrachte einen Teil ihrer Zeit mit Tib, da sie mehr über ihn erfahren wollte, und fragte sich, ob Tiger Tys Verdacht begründet war. Tib war offen und herzlich, außer wenn Gloon erwähnt wurde. Ermutigt durch ihre Zuwendung, war er bestrebt, über sich selbst zu sprechen. Er erzählte ihr, daß er in Varfleet aufgewachsen war, später seine Eltern an die Föderationsgefängnisse verloren hatte, dann von den Geächteten rekrutiert worden war, um im Widerstand zu helfen, und seitdem bei den Geächteten gelebt hatte. Er überbrachte überwiegend Nachrichten, denn er konnte fast überall hingelangen, weil er nicht so aussah, als bedeute er für irgend jemanden eine Gefahr. Er lachte darüber und brachte Wren damit ebenfalls zum Lachen. Er sagte, er sei ein- oder zweimal nordwärts zu den Festungen der Geächteten in den Drachenzähnen gezogen, sei aber nicht dorthin gegangen, um dort zu leben, da er in den Städten zu wertvoll war. Er sprach begeistert von den Zielen der Geächteten und von der Notwendigkeit, das Grenzland von der Herrschaft der Föderation zu befreien. Er sprach nicht von den Schattenwesen und ließ auch nicht erkennen, daß er etwas über sie wußte. Sie lauschte sorgfältig auf alles, was er sagte, und hörte nichts, was darauf schließen ließ, daß Tib etwas anderes war als das, was er zu sein behauptete. Sie bat Triss, ebenfalls mit dem Jungen zu sprechen, damit er sich auch eine Meinung bilden konnte. Das tat Triss, und er kam dabei zu demselben Schluß wie sie. Tib Arne schien zu sein, wer und was er behauptete. Wren war davon inzwischen überzeugt und ließ daher die Angelegenheit fallen.