Walker lächelte schwach und verbittert. Er hätte gern einen Weg gefunden, solche Gedanken verschwinden zu lassen.
Er stand allein außerhalb der Mauern Paranors, direkt an der nordwestlichen Ecke unter einer Ausgestaltung der Brustwehren, die einen flachen, herausragenden Überhang bildeten und über das Land hinausschauten. Er stand dort schon seit dem Sonnenaufgang, war durch die Nordtore hinausgeschlüpft, während sich die Vier Reiter an der Westseite versammelt hatten und ihre tägliche Herausforderung erklärt hatten. Fast sechs Stunden waren seither vergangen, und die Schattenwesen hatten ihn nicht entdeckt. Er war auch diesmal in einen Unsichtbarkeitszauber gehüllt. Der Zauber hatte zuvor gewirkt, hatte er Cogline gegenüber argumentiert, als er ihm seinen Plan erläuterte. Es gab keinen Grund, warum er nicht erneut wirken sollte.
Bisher hatte er es.
Sonnenlicht überschwemmte die Wände der Drachenzähne, jagte auch die hartnäckigsten Schatten davon und entblößte die flache, kahle Oberfläche der Felsen. Er konnte nördlich über die Baumlinie hinweg bis zu den kahlen Flächen des Streleheim sehen. Er konnte östlich bis zum Jannisson und südlich bis zum Kennon sehen. Ströme und Teiche schimmerten blau durch die Bäume, die den Keep umgaben, und Singvögel flogen in überraschenden, wunderschönen, strahlenden Farbexplosionen dahin.
Walker Boh atmete tief die Mittagsluft ein. An einem Tag wie diesem war alles möglich. Alles.
Er war mit lockeren, grauen, um die Taille gegürteten Gewändern bekleidet, die Kapuze herabgezogen, so daß sein schwarzes Haar lose über seine Schultern hing. Er trug einen Bart, der aber ordentlich geschnitten und gekämmt war. Natürlich war nichts davon zu sehen. Für jeden Vorübergehenden, und besonders für die Schattenwesen, war er nur ein Teil der Mauer. Ruhe und gute Ernährung hatten seine Kräfte wiederhergestellt. Die Verletzungen, die er drei Tage zuvor erlitten hatte, waren fast völlig geheilt, wenn auch nicht vergessen. Aber er dachte allenfalls flüchtig daran, was ihn danach befallen hatte. Er konzentrierte sich auf das, was jetzt geschehen sollte, an diesem Tag, zu dieser Stunde.
Es war der zehnte Tag der Belagerung durch die Schattenwesen. Es war der Tag, der ihm ausersehen war, daß an ihm diese Belagerung enden sollte.
Er sah über die Schulter zurück und an der Festungsmauer entlang, als einer der Vier Reiter in Sicht kam. Es war Hungersnot, der um die Biegung kam, die ihn zur Nordseite der Mauer führen würde, ein skelettartiger Umriß, über sein Schlangenreittier gebeugt, verloren in seiner eigenen seltsamen Art von Wahnsinn. Grau wie Asche und vergänglich wie Rauch, verfolgte er arglos seinen Weg. Er kam in wenigen Fuß Entfernung an Walker Boh vorbei und schaute nicht auf.
Heute, dachte der Druiden-Novize bei sich.
Er schaute erneut über das Tal hinweg und dachte an andere Zeiten und Orte, an die Geschichte, die ihm vorausgegangen war, an all die Druiden, die nach Paranor gekommen waren und es zu ihrem Heim gemacht hatten. Es waren einst Hunderte gewesen, aber alle bis auf einen waren gestorben, als der Dämonenlord sie vor tausend Jahren dort gefangen hatte. Nur Bremen hatte überlebt, um als einziger Träger der Hoffnung für die Rassen und Führer der Druidenmagie weiterzumachen. Dann war Bremen vergangen, und Allanon war gekommen. Jetzt war Allanon vergangen, und nur Walker Boh war da.
Der leere Ärmel seines fehlenden Arms war zurückgeschlagen und an seinem Körper befestigt. Er griff hinüber, um seinen Sitz zu überprüfen und um versuchsweise seine Schulter und das Narbengewebe zu berühren, das nur wenige Zentimeter darunter endete. Er konnte sich jetzt kaum noch daran erinnern, wie es gewesen war, zwei Arme zu haben. Es schien ihm seltsam, daß das so schwierig sein sollte. Aber in den Wochen seit seiner Begegnung mit dem Asphinx war vieles mit ihm geschehen, und begreiflicherweise konnte man nicht von ihm erwarten, sich besonders gut an etwas aus seinem alten Leben zu erinnern, so vollständig hatte er sich verändert. Sogar die Verärgerung und das Mißtrauen, die er gegenüber den Druiden empfunden hatte, waren verschwunden, denn was sollten sie schon jemandem nützen, der ihr Nachfolger geworden war. Die Druiden, die er verachtet hatte, gehörten der Vergangenheit an. Auch der Zorn auf den Grimpond, den er in sich getragen hatte, war vergangen und in jene selbe Vergangenheit verbannt. Der Grimpond hatte sein Bestes versucht, ihn zu vernichten, und war gescheitert. Er würde keine weitere Chance bekommen. Der Grimpond war ein Schatten in einem Schattenland. Er würde niemals hervorkommen, und Walker würde niemals wieder zurückgehen, um ihn zu treffen. Die Vergangenheit hatte Pe Ell und auch den Steinkönig davongetragen. Walker hatte die Kraft gefunden, alle Feinde, die gegen ihn ausgesandt worden waren, zu überleben, und jetzt waren sie nur noch Erinnerungen, die angesichts der gegenwärtigen Anforderungen seines Lebens kaum wichtig waren.
Walker atmete die Luft ein, schloß seine Augen und entschwebte zu einem Ort tief in sich selbst. Krieg ritt jetzt vorbei, ganz scharfe Kanten und Dornen, glitzernde Rüstung und schwarze, atmende Höhlungen. Walker ignorierte das Schattenwesen. Gesammelt ließ er sich in dem Schweigen und der Stille in sich selbst nieder und spielte noch einmal durch, was geschehen sollte. Schritt für Schritt ging er den Plan durch, den er ersonnen hatte, während er genesen war, wobei er noch einmal die Ereignisse durchdachte, die er herbeiführen würde, und die Konsequenzen, die er unter Kontrolle halten mußte. Dieses Mal würde nichts dem Zufall überlassen bleiben. Es würde kein Ausprobieren geben, keine halbherzigen Maßnahmen, kein Zurückweichen. Er würde erfolgreich sein, oder er würde...
Er lächelte beinahe.
Oder er würde es nicht sein.
Er öffnete die Augen und schaute zum Himmel empor. Der Mittag war vergangen und strebte jetzt dem Nachmittag zu. Aber das Licht hatte noch nicht seine stärkste Helligkeit erreicht und die Hitze noch nicht ihren Höhepunkt, und so würde er noch ein wenig länger warten. Licht und Hitze würden eher ihm dienlich sein als den Schattenwesen, und das war der Grund, warum er am Mittag dort draußen war. Vorher hatte er die Absicht gehabt, im Dunkeln zu entkommen. Aber die Dunkelheit war der Verbündete der Reiter, denn sie waren Wesen, die daraus geboren waren und daraus ihre Kraft entnahmen. Walker würde seine Kraft mit Hilfe seiner Druidenmagie in der Helligkeit finden.
Es würde trotz allem ein Ausprobieren der Kräfte werden, und es würde sich entscheiden, wer an diesem Tag leben und wer sterben würde.
Kräfte aller Art.
Er erinnerte sich an seine letzte Unterhaltung mit Cogline. Es war kurz vor der Dämmerung gewesen, und er hatte sich darauf vorbereitet, hinauszugehen. Bewegung war auf der Treppe zu spüren gewesen, die zu dem Eingangshof führte, wo er sich befunden hatte, und Cogline war erschienen. Sein stockdünner Körper war mit leisem Flattern der Gewänder und mühsamem Atmen aus den Schatten der Treppe geglitten. Sein zerfurchtes, bärtiges Gesicht hatte Walker unter dem Rand seiner ausgefransten Kapuze heraus kurz angesehen, und dann hatte er wieder fortgeschaut. Er hatte sich genähert und war stehengeblieben, der nach draußen führenden Tür zugewandt.
»Bist du bereit?« hatte er gefragt.
Walker hatte genickt. Sie hatten alles durchdiskutiert – oder zumindest so viel, wie Walker zu erörtern bereit gewesen war. Es war nichts mehr zu sagen geblieben.
Die Hände des alten Mannes hatten auf den steinernen Bollwerken geruht, die den eisenbeschlagenen Eingang schützten, um ihn zu stützen. Sie waren so dünn, daß sie fast transparent erschienen waren. »Laß mich mit dir gehen«, hatte er leise gesagt.
Walker hatte den Kopf geschüttelt. »Darüber haben wir bereits gesprochen.«
»Ändere deine Meinung, Walker. Laß mich mitgehen. Du wirst mich brauchen.«
Er hatte so sicher geklungen, erinnerte sich Walker, als er jetzt erneut darüber nachdachte. »Nein. Du und Ondit werdet hier warten. Bleibt in der Nähe der Tür – damit ihr mich wieder hereinlassen könnt, wenn dies fehlschlägt.«