Coglines Kinn hatte sich angespannt. »Wenn dies fehlschlägt, wirst du mich nicht brauchen, um dich wieder hereinzulassen.«
Wie wahr, hatte Walker gedacht. Aber das hatte nichts an den Dingen geändert. Er hatte den alten Mann und die Moorkatze nicht mit sich dort hinausnehmen wollen. Er hatte nicht auch noch für ihr Leben verantwortlich sein wollen. Es würde genügen, wenn er sich Gedanken darüber machen mußte, wie er selbst heil aus der Sache herauskommen konnte.
»Du denkst, ich könnte nicht auf mich selbst aufpassen«, hatte der alte Mann gesagt, als habe er seine Gedanken lesen können. »Du vergißt, daß ich schon jahrelang auf mich selbst aufgepaßt habe, bevor du dahergekommen bist – bevor es überhaupt Druiden gegeben hat. Ich habe einst auch auf dich aufgepaßt.«
Walker hatte genickt. »Ich weiß.«
Der alte Mann war unruhig gewesen. »Könnte sein, daß es so gedacht ist, daß ich erneut auf dich aufpassen soll, weißt du. Könnte sein, daß du mich dort draußen brauchst.« Er hatte ihm sein Gesicht in der Kapuze zugewandt, um ihn ansehen zu können. »Ich bin ein alter Mann, Walker. Ich lebe schon eine lange Zeit – ein ganzes Leben lang. Es ist nicht mehr so wichtig, was mit mir geschieht.«
»Mir ist es wichtig.«
»Das sollte es nicht. Das sollte es kein bißchen«, hatte Cogline eindringlich gesagt. »Warum sollte es wichtig sein? Seit wann magst du mich überhaupt so sehr? Ich war derjenige, der dich in diese Geschichte hineingezogen hat. Ich war derjenige, der dich dazu überredet hat, zum Hadeshorn zu ziehen und dann die Druidengeschichte zu lesen. Hast du das vergessen?«
Walker hatte den Kopf geschüttelt. »Nein, ich habe nichts davon vergessen. Aber ich war es, der die wichtigen Entscheidungen getroffen hat – nicht du. Wir haben auch über das alles gesprochen. Du warst genauso sehr ein Unterpfand der Druiden wie ich. Alles wurde bereits vor dreihundert Jahren beschlossen, als Allanon Brin Ohmsford das Erbe übergeben hat. Dir kann man für nichts von alledem die Schuld geben.«
Cogline hatte betrübt und abwesend gewirkt. »Man kann mir für alles, was in meinem und auch in deinem Leben geschehen ist, die Schuld geben, Walker Boh. Ich habe mich früh für den Druidenweg entschieden und habe mich später entschieden, ihn wieder zu verlassen. Ich habe mich entschieden, die alten Wissenschaften zu erlernen und in kleinen Schritten zu genesen. Ich habe mich zu einem Wesen beider Welten herausgebildet, Druide und Mensch, habe genommen, was ich brauchte, behalten, wonach mir verlangte, und von beiden gestohlen. Ich bin das Verbindungsglied zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, zwischen dem Neuen und dem Alten, und Allanon konnte mich als solches benutzen. Wie vieles von dem, was ich bin, hat deine eigene Umwandlung möglich gemacht, Walker? Wie weit wärst du gegangen, wenn ich nicht dagewesen wäre, um dich anzuspornen? Glaubst du auch nur einen Moment lang, ich sei mir dessen nicht bewußt gewesen? Oder daß Allanon es nicht bemerkt hätte? Nein, ich kann nicht von meiner Schuld befreit werden. Du kannst mich nicht davon freisprechen, indem du sie auf dich selbst lädst.«
Walker erinnerte sich an die Vehemenz in der Stimme des anderen, die Härte, die sie offenbart hatte, die Beharrlichkeit, die sie übermittelt hatte. »Dann sollte ich nicht versuchen, dich von der Schuld freizusprechen, alter Mann«, hatte er erwidert. »Aber ich sollte auch mich nicht von Schuld freisprechen. Du hast weder für mich die Wahl getroffen, noch hast du mich daran gehindert, sie selbst zu treffen. Ja, es gab zwingende Gründe für meine jeweilige Wahl, aber diese Gründe wurden von dir nicht eingebracht, bevor ich sie mir nicht selbst überlegt hätte. Außerdem könnte ich, wenn ich wollte, dasselbe behaupten wie du. Welchen Anteil hättest du ohne mich an alledem gehabt? Wärst du mehr als ein Bote für Par und Wren gewesen, wenn du nicht auch an mich gebunden gewesen wärst? Ich glaube nicht, daß du das sagen kannst.«
Das Gesicht des alten Mannes hatte sich dann in die Schatten gesenkt, hatte die Unbeugsamkeit des anderen gesehen und seine Entschlossenheit gehört.
»Du kannst mir am besten helfen, indem du hier wartest«, hatte Walker erklärt und die Hand ausgestreckt, um den Arm des anderen zu berühren. »Sonst hast du immer die Wichtigkeit dessen verstanden, wann man handeln muß und wann nicht. Tu es für mich auch jetzt.«
Damit war die Debatte beendet gewesen, und Cogline hatte bei ihm gestanden, bis das Geräusch der Herausforderung der Schattenwesen durch die Steinmauern Paranors hallte und Walker in die trübe Dämmerung hinausgegangen war, um sich ihr zu stellen.
Kräfte aller Art, wiederholte er, während er jetzt im Schutz der Festungsmauer stand und auf das Herannahen des nächsten der die Festung umkreisenden Schattenwesen lauschte. Er würde vor allem eine Entschlossenheit von der Art brauchen, wie Cogline sie besaß – eine wilde Entschlossenheit, auch nicht den härtesten und unbestreitbarsten Diktaten des Lebens nachzugeben –, wenn er diesen Tag überleben sollte. Hungersnot, Seuche, Krieg und Tod – die Vier Reiter der Apokalypse waren gekommen, um seine Seele zu fordern. Aber an diesem Tag war er Schicksal, und Schicksal würde das Geschick aller beschließen.
Er schaute auf, als Seuche erschien, und streckte sich dann merklich. Es war an der Zeit.
Walker Boh wartete im Schatten der Mauer. Eine unsichtbare Gegenwart, während sich der Reiter näherte. Er kam desinteressiert und lethargisch heran, von seinem Schlangenreittier getragen, ein summender Schwärm Insekten, die in der Gestalt eines Mannes versammelt waren. Seuche fehlten Gesichtszüge und somit auch ein Gesichtsausdruck, und Walker konnte nicht sagen, was er sah oder dachte. Er zog vorüber, ohne langsamer zu werden, die Schlangenklauen rauh auf dem Pfad kratzend. Walker schloß sich ihm an. Der Unsichtbarkeitszauber verhinderte, daß er gesehen wurde, und die Geräusche der Schlange verhinderten, daß er gehört wurde. Walker hatte überlegt, den Unsichtbarkeitszauber zu benutzen, um an den Schattenwesen vorbeizuschlüpfen. Aber sie hatten ihn schnell genug entdeckt, als er versucht hatte, durch die unterirdischen Tunnel Paranors zu entkommen, obwohl er so leise wie ein Gedanke gewesen war, und er glaubte, daß sie ihn spüren konnten, wenn er sich zu weit vom Keep entfernte, von seiner Zufluchtsstätte und der Quelle seiner Druidenmacht. Sogar die Unsichtbarkeit würde ihn dann vielleicht nicht beschützen. Es war besser, so hatte er beschlossen, seinen Vorteil zu nutzen, wenn er sich auf sie verlassen konnte, und den Reitern ein für allemal ein Ende zu bereiten.
Im Kielwasser von Seuche umkreiste er die Festungsmauern, die Stille des Mittags nur von dem Kratzen der Schlangenklauen und dem Summen der eingesperrten Insekten gebrochen. Sie zogen von der kühleren Nordmauer fort und die westliche Mauer entlang, kamen an den Toren vorbei, an denen sich die Reiter jeden Morgen versammelten, um ihre Herausforderung zu erklären. Er hatte sich die Nordmauer ausgesucht, um sich darin zu verbergen, sowohl eingedenk der Tatsache, daß er Stunden dort draußen in der Hitze sein würde, und in der Hoffnung, daß ihm die Schatten der windabgewandten Seite der Festung ein wenig Schutz geben würden. Aber er würde die Schattenwesen an der Südmauer bekämpfen – im Süden, wo das Sonnenlicht am stärksten war. Sie begann voraus bereits stärker zu brennen, während sie von den letzten Schatten, die die Brustwehr warf, ins Licht traten.
Sie umrundeten die Ecke zur südlichen Mauer, einer hoch aufragenden, glatten Fläche flammenden Gesteins, die über einen breiten Streifen Waldland zu den dicht zusammenstehenden Gipfeln der Drachenzähne hinausschaute. Ein ausgedörrtes, staubiges Stück Fels ließ einen Durchgang unterhalb der Mauer, kahl bis auf etwas Gestrüpp und einige wenige verkümmerte Bäume, die an einem steilen Hang entlang auf die kühleren Waldgebiete zu abfielen. Die Hitze erhob sich als Schwüle, die die Luft aus Walkers Lungen zu saugen drohte, aber er kämpfte entschlossen gegen den brennenden Ansturm an, folgte Seuche immer in der gleichen Entfernung, erblickte weit voraus kurzzeitig Hungersnot, der gerade in den von einem Bogen der Brustwehr erzeugten Schatten unterhalb des östlichen Teils der Festung verschwand.