Walker sagte nichts. Er sah die Erscheinung an, schaute unmittelbar durch sie hindurch und betrachtete weit entfernte, noch kommende und bereits vergangene Ereignisse und Coglines letzte Ruhestätte. Der Tod hatte den alten Mann beansprucht, aber er hatte ihn zu seinen Bedingungen beansprucht.
– Wenn ich könnte, würde ich dir all jene zurückgeben, die du verloren hast, Walker Boh. Aber ich kann es nicht. Ich kann dir nichts von dem geben, was vergangen ist, und nichts von dem, was noch verloren werden wird. Das Leben eines Druiden sieht viele dahinscheiden –
In seinem Traum wurde das Tal von einem Strom der Verschwommenheit verdunkelt, der wie Regen durch einen Wald oder wie Wolken über die Sonne streicht. Es war ein langsames, sanftes Vorüberziehen, und es brachte ein Gefühl mit sich, als seien Leben entstanden und nähmen ihren Verlauf, alles innerhalb von Sekunden. Da waren Gesichter, alle unbekannt. Da waren Stimmen, die lachend und auch schmerzerfüllt aufschrien. Die Zeit verging, Stunden wurden zu Tagen, Tage zu Jahren, und Walker war dort, unverändert, während der ganzen Zeit, beständig zurückgelassen, ewig allein.
– So wird es für dich sein. Erinnere dich –
Aber Walker brauchte sich nicht zu erinnern. Er hatte dafür Allanons Erinnerungen. Die Umwandlung hatte sie ihm zugänglich gemacht. Er hatte die Erinnerungen aller zuvor vergangenen Druiden. Er wußte, wie sein Leben aussehen würde. Er erkannte, was ihm bevorstand.
– Erinnere dich –
Das Flüstern des Schattens ließ die Zeit erneut stillstehen, das Tal von Shale kam wieder heran, und Walkers Gedankenfluß wurde erneut auf die Absicht des Traums gelenkt.
»Warum bin ich hier, Allanon?« fragte er.
– Du bist jetzt vollständig, Walker Boh. Du bist zu dem geworden, was du werden solltest, und es bleibt nichts mehr zu tun. Du trägst den Druidenschutz, du wirst ihn an meiner Statt tragen. Trage ihn jetzt von Paranor in die Vier Länder. Du wirst dort gebraucht –
»Ich weiß.«
Gischt zischte und sang. Allanons Gesicht unter der Kapuze senkte sich.
– Du weißt nicht. Du wurdest umgewandelt, Walker Boh, aber das ist nur der Anfang. Du bist ein Druide geworden, gewiß, aber ein Werden ist kein Sein. Du trägst die Verantwortung für die Rassen, für ihr Wohlergehen, Dunkler Onkel. Jene, von denen du dich einst absondern wolltest, sind jetzt deine Aufgabe. Sie warten –
»Um von den Schattenwesen befreit zu werden.«
– Deine Aufgabe ist es, ihnen zu zeigen, wie sie sich befreien können. Deine Aufgabe ist es, ihnen den Weg zu zeigen. Deine Aufgabe ist es, sie aus der Dunkelheit herauszuführen –
Walker Boh schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber ich kenne diesen Weg nicht besser als sie.«
Die Oberfläche des Hadeshorn dampfte, und die Luft war von Nebel erfüllt. Die Feuchtigkeit legte sich auf Walkers Gesicht wie Frost an einem frühen Wintermorgen. Es war tödlich, die Wasser des Hadeshorn zu berühren, aber nicht für ihn. Denn die Druiden hatten vor langer Zeit Geheimnisse entdeckt, die sie in die Lage versetzten, den Tod zu durchdringen.
Allanons Stimme klang dunkel und gewiß.
– Du wirst den Weg finden. Du hast die Kraft und die Weisheit all jener, die zuvor vergangen sind. Du hast die Magie der Jahrhunderte. Verlasse Paranor und finde die anderen Kinder von Shannara. Jeder von euch wurde ausgesandt, um eine Aufgabe zu erfüllen. Ihr seid die Träger der Talismane, Walker Boh. Jene Talismane sollen euch unterstützen –
Walker schüttelte verwirrt den Kopf. »Welchen Talisman trage ich?«
Der Schatten Allanons schimmerte kurzzeitig in einem sich aus dem See erhebenden Wehklagen von Schreien und drohte zu verschwinden.
– Den mächtigsten Talisman von allen: den Druidenschutz, den du angenommen hast. Er kann niemals gesehen werden, aber er ist immer da und gehört dir allein. Seine Macht nimmt zu, wenn du ihn benutzt, er kräftigt sich mit jedem Gebrauch. Denk nach, Walker Boh. Bevor du die Reiter vernichtet hast, warst du weniger, als du es jetzt bist. So wird es bei jeder dir begegnenden und von dir bewältigten Herausforderung sein. Du bist noch im Kindesalter und beginnst gerade erst zu entdecken, was es bedeutet, ein Druide zu sein. Mit der Zeit wirst du wachsen –
»Aber im Moment...?«
– Du hast genug Verantwortung. Die Verantwortung bedingen Talismane, und die Talismane bedingen die Magie. Magie zusammen mit Wissen sollte das Ende der Schattenwesen herbeiführen können. So war es, als ich das erste Mal mit dir sprach. So ist es jetzt. Wenn ich könnte, würde ich dir mehr geben, Walker Boh. Aber ich habe dir bereits alles gegeben, was ich dir geben konnte, alles, was ich weiß. Erinnere dich daran, Dunkler Onkel. Ich bin aus eurer Welt gegangen und wurde in eine andere hineinversetzt. Ich habe keine Substanz mehr. Ich bestehe jetzt aus anderem. Ich sehe von meinem Standort aus nur unvollständig. Ich sehe nur Schatten dessen, was sein würde und muß mich darauf verlassen. Du kannst dich auf deine Sicht der Dinge verlassen. Geh, Walker. Finde die Nachkommen von Shannara und entdecke, was sie getan haben. In ihren Geschichten und in deiner eigenen wirst du finden, was du brauchst. Du mußt glauben –
Walker sagte dann nichts mehr und dachte einen Moment lang, daß er wieder einmal gefordert war, allein aufgrund von Vertrauen weiterzumachen. Aber das war nur das, was er schon die ganze Zeit tat, seit ihm die Träume zum ersten Mal erschienen waren und er dazu überredet worden war, zum Hadeshorn und zu Allanon zu ziehen. War es wirklich so schwer, zu akzeptieren, daß das Vertrauen ihn erneut leiten müßte?
Er betrachtete die fahle Gestalt vor sich, deren Umrisse schon fast transparent, deren Erinnerungen an Leben zuvor vergangen waren. »Ich glaube«, sagte er zu dem Schatten Allanons und meinte es auch so.
– Walker Boh –
Die Stimme des Schattens war weich und von einem Bedauern erfüllt, das Worte nicht verdeutlichen konnten.
– Finde die Kinder von Shannara. Du hast die visionäre Kraft der Druiden. Du hast die Weisheit, die sie brauchen. Laß sie nicht im Stich –
»Nein«, sagte Walker rauh. »Das werde ich nicht.«
– Vernichte die Schattenwesen, bevor sie die Vier Länder vollkommen zerstören. Ich spüre, wie sich ihre Krankheit sogar hier schon auszubreiten beginnt. Sie stehlen der Erde das Leben. Halte sie auf, Walker Boh –
»Ja, Allanon. Das werde ich.«
– Dann konzentriere dich auf mich, Dunkler Onkel. Konzentriere dich ein letztes Mal, bevor du gehst. Der Schlaf trägt uns dem Tagesanbruch entgegen, und wir müssen verschiedene Pfade beschreiten. Höre das letzte, was ich dir sagen werde, und laß deine Weisheit und deinen Verstand erkennen, was vor uns beiden verborgen bleibt. Konzentriere dich auf mich, Walker Boh, und hör mir zu –
Der Schatten näherte sich, Dampf in menschlicher Gestalt auf den Wassern des Hadeshorn, Nebel und graues Licht, das alles einhüllte, ein Geist, geformt aus erschreckender Dunkelheit und erklingenden Geräuschen.
Angespannt und unsicher wartete Walker Boh, den Blick auf das brodelnde Wasser gesenkt, auf die Widerspiegelung der Sterne und des Himmels, bis beides in der Schwärze der Schatten verschwand.
Dann spürte er, wie der andere seine Haut berührte, und er zitterte unkontrolliert.
Er erwachte bei Sonnenaufgang. Das Licht kroch schwach aus dem Gang jenseits seines verdunkelten Raumes. Er lag eine Zeitlang regungslos da und dachte über den Traum nach und darüber, was er ihm gezeigt hatte. Allanon hatte den Traum gesandt, damit er einen Ort hatte, wo er sein neues Leben beginnen konnte. Der Traum hatte seine Absicht, Par und Wren zu suchen, erneut bekräftigt, aber er hatte ihm auch einen Grund gegeben, an sich selbst zu glauben. Er konnte akzeptieren, wer und was er geworden war, wenn zumindest eine Chance bestand, daß er die verwüsteten Länder und ihre Bewohner aus der Unterwerfung durch die Schattenwesen herausführen konnte.
Finde die Kinder von Shannara. Laß sie nicht im Stich.