»Seid still, alle beide!« befahl Damson Rhee und drängte sie weiter.
Ihre Stimmung war inzwischen ziemlich gereizt. Es hatte erbitterte Auseinandersetzungen gegeben, wer mit in die Stadt kommen sollte, und dieser Streit war durch die Nachricht von Padishar Creels drohender Hinrichtung noch verstärkt worden. Eineinhalb Tage waren nicht annähernd genug Zeit, um eine erfolgreiche Befreiung durchzuführen, aber mehr hatten sie nicht zur Verfügung, und Morgan hatte sich gesagt, daß sein ursprünglicher Plan der Änderung bedurfte. Nicht nur Matty und Damson sollten in die Stadt gehen, um den Maulwurf zu suchen, sondern auch er ging mit hinein. Im besten Falle hatten sie den heutigen Tag und den Abend, um den Maulwurf aufzuspüren, Chandos und die anderen Geächteten durch die unterirdischen Tunnel hereinzubringen, einen Befreiungsplan für Padishar zu ersinnen und in die Tat umzusetzen. Morgan bestand darauf, daß er die beiden Frauen in die Stadt begleiten müßte, um entscheiden zu können, was zu tun war. Er konnte es sich nicht leisten, auf den Einbruch der Nacht zu warten und darauf, daß der Maulwurf die Dinge begutachtete. Damson und Matty verwiesen immer wieder darauf, daß jeder Versuch, an den Wachen vorbeizugelangen, sie alle gefährden würde. Es würde für sie beide allein schon schwer genug werden, aber doppelt gefährlich, wenn sie gezwungen wären, auch ihn hineinzubringen. Warum konnte er seine Pläne nicht dort schmieden, wo er war? Hatte er nicht inzwischen genug Zeit in der Stadt verbracht, um sich ein genaues Bild zu machen?
So hatten sie sich gestritten, aber am Ende hatte Morgan die Diskussion gewonnen, indem er erklärte, er könne überhaupt keine Pläne schmieden, bis er wüßte, wo Padishar gefangengehalten würde, und das könne er nicht wissen, solange er nicht in die Stadt hineingelangt sei. Der Preis für seinen Sieg war die unerbittliche Forderung beider Frauen, daß er sein Schwert zurücklassen sollte. Die Täuschung mit einer Verkleidung würde vielleicht funktionieren, aber nicht, wenn er diese Waffe mit sich trüge. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war einfach zu groß. Trotz seiner Proteste wollte keine der Frauen nachgeben. Das Schwert von Leah war bei Chandos zurückgeblieben.
Damson führte sie eine Straße hinab zu der Seitentür eines verlassenen Gebäudes, stieß die Tür auf und trat mit ihnen ein. Das Innere war eng und stickig, und Staub hing in sichtbaren Schleiern in der Luft. Sie schloß die Tür hinter ihnen, und dann durchquerten sie den Raum zu einer zweiten Tür und betraten von dort einen weiteren, genauso stickigen Raum. Ein winziger Hof eröffnete sich dahinter, und sie gingen durch die frühen Morgenschatten und den schwachen Duft von Wildblumen, die in einer sonnendurchtränkten Ecke des Hofes wuchsen, zu einem offenen Schuppen mit altem Werkzeug und Werkbänken. Dort verließ Damson ihre Gefährten. Als sie zurückkehrte, hatte sie eine Schale mit Wasser gefüllt, und die drei ließen sich nieder und wuschen sich.
Als sie gesäubert waren, wühlten sie sich durch die Lumpenbündel und zogen ihre gute Kleidung hervor. Sie legten die alte ab, zogen die neue an und setzten sich auf zwei Werkbänke, um zu beraten, was als nächstes zu tun sei.
»Ich werde zuerst hinausgehen und versuchen, den Maulwurf zu finden«, sagte Damson, die noch immer die Knoten ihres zerzausten roten Haars auskämmte. Sorgfältig band sie es zurück und verstaute es unter einem Tuch. »Ich kann Zeichen hinterlassen, die er verstehen wird. Wenn das getan ist, werde ich zurückkommen, und wir werden sehen, was wir über Padishar herausfinden können. Dann werde ich Euch irgendwo zurücklassen müssen, während ich auf den Maulwurf warte. Er kommt vielleicht nicht, wenn er uns alle sieht – er kennt Euch beide nicht, und er wird nach dem, was geschehen ist, sehr vorsichtig sein. Wenn er kommt, werde ich mit ihm Chandos und die anderen holen, und wir werden Euch in der Dämmerung wieder treffen. Wenn er nicht kommt...«
»Sagt es nicht«, unterbrach Morgan sie. »Tut einfach Euer Bestes.«
Damson sah Matty an. »Wie gut kennt Ihr die Stadt?«
»Gut genug, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten.«
Damson nickte. »Wenn mir etwas geschieht, werdet Ihr Morgan hier herausbringen müssen.«
»Einen Moment!« rief Morgan aus. »Ich werde nicht...«
»Ihr werdet tun, was man Euch sagt. Eure Pläne sind nichts mehr wert, wenn meine Mission mißlingt. Wenn die Föderation den Maulwurf gefangengenommen hat oder wenn sie mich gefangennimmt, dann kann nichts mehr getan werden.«
Morgan starrte sie an, war aber durch die Verärgerung in ihrer Stimme und die Entschlossenheit, die er in ihren grünen Augen wahrnahm, zum Schweigen gebracht.
Matty ergriff seinen Arm und zog ihn einen Schritt zurück. »Ich werde mich um ihn kümmern«, versprach sie.
Damson nickte, und ihr Gesichtsausdruck wurde eine Spur weicher. Sie erhob sich, wickelte ihren Umhang um sich, nickte ihnen kurz zu und verschwand auf dem Weg, auf dem sie gekommen war. Morgan sah ihr nach und fühlte sich hilflos. Sie hatte recht. Er konnte nichts mehr tun, wenn ihre Mission mißlang. Der Erfolg eines jeden Plans, den er ersinnen konnte, hing von dem Mädchen ab und davon, daß der Maulwurf Chandos und die Geächteten in die Stadt hineinbrachte. Ohne die Geächteten oder die Magie seines Schwerts war er nicht in der Lage, Padishar zu helfen. Was für ein dünner Faden, an dem alles hing, dachte er grimmig.
»Möchtet Ihr etwas essen?« fragte Matty Roh freundlich, sah ihn mit ihren dunklen Augen fragend an und bot ihm einen Apfel an.
Sie warteten bis fast zur Mittagszeit im Schatten des Lagerschuppens versteckt in dem kleinen umschlossenen Hof. Die Luft begann zu dampfen und war dicht vor Hitze, und die Sonne brannte eine stetige Spur über die Steine und das verdorrte Gras, und diese kletterte schließlich die Nordmauer von Osten nach Westen hinauf wie die Ausbreitung verschütteter Farbe. Morgan döste ein wenig, denn er war müde von dem langen Marsch hierher und von der unsicheren Nacht, in der er in seiner unbequemen Verkleidung vor den Toren geschlafen hatte. Er merkte, daß er an Par und Coll und an die Tage vor den Schattenwesen und Allanon dachte, an die Jahre, als sie im Hochland gejagt und gefischt hatten, an seine eigene Kindheit, an die langen, bedächtigen Tage, als das Leben ein aufregendes Spiel gewesen zu sein schien. Er dachte an Steff und Granny Elise und Auntie Jilt. Er dachte an Quickening. Sie waren Erinnerungen an eine Vergangenheit, die mit jedem Tag, der verging, ein wenig ihrer Farbe verlor. Sie schienen alle schon vor sehr langer Zeit aus seinem Leben verschwunden zu sein.
Die Sonne stand direkt über ihnen, als Damson Rhee schließlich zurückkehrte. Sie war rot von der Hitze und staubbedeckt, aber in ihren Augen war Erregung erkennbar.
»Sie halten Padishar in demselben Wachturm gefangen, in dem sie mich gefangengehalten haben«, verkündete sie, ließ sich auf eine der Bänke fallen und legte ihren Umhang ab. Sie nahm einen langen Schluck aus dem Becher mit Wasser, den Matty Roh ihr anbot. »Es scheint allgemein bekannt zu sein. Sie planen, ihn morgen um die Mittagszeit zu den Haupttoren zu bringen und ihn dort, für die ganze Stadt sichtbar, zu hängen.«
»Wie geht es ihm?« fragte Morgan schnell. »Hat jemand etwas darüber gesagt?«
Sie schüttelte den Kopf und schluckte. »Niemand hat ihn gesehen. Aber unter den Soldaten wird darüber geredet, daß er bis zum Ende durchhält.«
Sie sah Matty Roh an. Die runzelte die Stirn. »Allgemein bekannt, nicht wahr?« Sie sah Damson nachdenklich an. »Ich traue dem nicht sonderlich. Wenn etwas allgemein bekannt ist, bedeutet das meiner Erfahrung nach oft, daß es sich nur um ein Gerücht handelt.«
Damson zögerte. »Jedermann schien so sicher.« Sie brach ab. »Aber ich denke, wir müssen uns selbst davon überzeugen, nicht wahr?«
Matty Roh beugte sich vor, die Ellenbogen auf den Knien, das Kinn in den Händen, das jungenhafte Gesicht angespannt. »Ihr habt mir erzählt, wie Padishar gefangengenommen wurde.« Morgan sah hoch. Wieviel mehr hatte Damson ihr erzählt, was er nicht wußte? »Es hat einmal funktioniert, also stehen die Chancen recht gut, daß sie es erneut versuchen werden. Aber sie werden die Regeln ändern. Sie werden sicherstellen, daß dieses Mal niemand davonkommt. Anstatt einen lebenden Köder zu benutzen, werden sie jetzt vielleicht... die Tatsache benutzen, daß es allgemein bekannt ist.«