Morgan nickte. Er hätte selbst drauf kommen müssen. »Ein Köder. Sie erwarten einen Befreiungsversuch, also leiten sie ihn in die Irre. Sie halten Padishar irgendwo anders gefangen.«
Matty nickte ernst. »Darauf würde ich wetten.«
Damson stand wieder auf. »Ich habe Zeichen für den Maulwurf hinterlassen, die er nicht verfehlen kann. Wenn er kommt, wird er heute abend kommen. Bis dahin habe ich Zeit, wieder hinauszugehen. Vielleicht kann ich doch herausfinden, wo Padishar wirklich ist.«
»Ich komme auch mit.« Morgan erhob sich und griff nach seinem Umhang.
»Nein.« Matty Rohs Stimme klang heftig und fest. Sie stand auf und trat zwischen sie. »Keiner von Euch beiden geht.« Sie griff nach ihrem Umhang. »Ich gehe.« Sie sah Morgan an. »Ihr könntet erkannt werden, nachdem Ihr Eure Verkleidung abgelegt habt, und Ihr könnt ohnehin unentdeckt nirgends hingehen, wo Ihr etwas erfahren könntet. Ihr seid besser dran, wenn Ihr hierbleibt.« Sie wandte sich Damson zu. »Und Ihr könnt es Euch nicht leisten, Euer Leben noch einmal zu riskieren. Immerhin wissen sie auch, wer Ihr seid. Es war riskant genug, heute morgen hinauszugehen. Was auch immer geschieht, Ihr müßt in Sicherheit bleiben, bis Ihr den Maulwurf trefft und die anderen hereinbringen könnt. Das könnt Ihr nicht tun, wenn Ihr entdeckt und Euch in Padishar Creels Gesellschaft wiederfinden würdet. Außerdem bin ich in diesen Dingen besser als Ihr. Ich weiß, wie man lauscht, wie man Dinge herausfindet. Geheimnisse aufzudecken liegt mir am meisten.«
Sie sahen sie einen Moment schweigend an. Als Morgan widersprechen wollte, brachte Damson ihn mit einem Blick zum Schweigen. »Sie hat recht. Padishar würde das nur gutheißen.«
Morgan setzte erneut an, etwas zu sagen, aber Damson unterbrach ihn, indem sie sagte: »Wir werden hier auf Euch warten, Matty. Seid vorsichtig.«
Matty nickte und schlang sich den Umhang um die Schultern. Ihr schmales Gesicht war fest und glatt und ruhig. »Wartet nicht länger, wenn ich in der Dunkelheit noch nicht zurückgekommen bin.« Sie lächelte Morgan schnell und ironisch an. »Wiegt mich in Euren Gedanken in Sicherheit, Hochländer.«
Dann ging sie über den Hof und durch die Tür des jenseitigen Raums und war fort. Sie warteten den ganzen Tag auf Matty Roh, kauerten sich in den Schutz des Schuppens und versuchten allen möglichen Trost aus dem Schatten zu ziehen, den er spendete. Die Sonne zog langsam westlich vorbei, die Hitze staute sich in ihrem Schlepptau auf, und die Luft stand ruhig und staubig in dem stickigen Hof.
Damit die Zeit schneller vorüberging, begann Morgan Damson zu erzählen, wie Padishar und er am Jut zusammen gegen die Föderation gekämpft hatten. Aber darüber zu sprechen, milderte seine Langeweile nicht, wie er gehofft hatte. Statt dessen brachte es eine Erinnerung zurück, die er hatte vergessen wollen – nicht die an Steff oder Teel oder den Kriecher oder auch an seinen erschütternden Kampf in den Katakomben, sondern an das furchtbare, erschreckende Gefühl, unvollständig zu sein, das er empfunden hatte, als er der Magie des Schwerts von Leah beraubt worden war. Nachdem seine Magie durch Generationen seiner Familie hindurch geruht hatte, hatte ihre Wiederentdeckung ihm Türen geöffnet, die seinem Empfinden nach besser geschlossen geblieben wären. Die Magie hatte ihn in solche Abhängigkeit gebracht, ein Elixier der Macht, das stärker war als Vernunft oder Selbstverleugnung, das in seinem Streben, alles zu dominieren, heimtückisch war, das in seinem Bedürfnis, immer zu befehlen, absolut war. Er erinnerte sich daran, wie ihn diese Macht eingebunden hatte, wie er danach unter ihrem Verlust gelitten hatte und wie sie ihm den Mut und die Entschlußkraft genommen hatte, als er beides gebraucht hätte – und jetzt war er zwar erneut im Besitz dieser Macht, hatte aber Angst davor, was ihr erneuter Gebrauch ihn kosten würde. Er mußte wieder an Par denken, der verflucht, nicht gesegnet war durch die Magie des Wunschgesangs, eine Magie, die möglicherweise zehnmal stärker war als die des Schwerts von Leah, eine Magie, mit der Par seit seiner Geburt hatte ringen müssen und die sich jetzt auf erschreckende Weise entwickelt hatte, so daß sie ihn vollständig zu vereinnahmen drohte. Morgan dachte, daß er auf gewisse Weise Glück gehabt hatte, das der Talbewohner nicht gehabt hatte. Viele hatten dem Hochländer geholfen – Steff, Padishar, Walker, Quickening, Horner Dees und jetzt Damson und Matty Roh. Jeder hatte ein Maß an Vernunft und Ausgewogenheit in sein Leben gebracht, hatte ihn davon abgehalten, sich in der Verzweiflung zu verlieren, die ihn andernfalls vielleicht überwältigt hätte. Einige waren ihm für immer genommen worden, und einige waren durch die Ereignisse von ihm getrennt. Aber sie waren dagewesen, als er sie gebraucht hatte. Auf wen hatte Par sich verlassen können? Auf Coll, der vom Wahnsinn der Schattenwesen vereinnahmt war? Auf Padishar, der auch gegangen war? Auf Walker oder Wren oder einen der anderen, die sich auf diese endlose Reise begeben hatten? Auf Cogline? Auf ihn selbst? Sicherlich nicht auf ihn selbst. Nein, da waren nur Damson und der Maulwurf gewesen – und überwiegend nur Damson. Jetzt war auch sie von ihm getrennt, und Par war wieder allein.
Ein Gedanke führte zum nächsten, und obwohl er damit begonnen hatte, über Padishar und den Jut zu sprechen, stellte er jetzt fest, daß er schließlich abgelenkt worden war und einmal mehr über das sprach, was ihn am meisten beschäftigte, über Par, seinen Freund, den er, wie er es empfand, wieder und wieder im Stich gelassen hatte. Er hatte Par versprochen, daß er bei ihm bleiben würde. Er hatte versprochen, als sein Beschützer mit ihm in den Norden zu kommen. Er hatte dieses Versprechen gebrochen, und er wünschte inständig, eine weitere Chance zu bekommen, nur eine einzige, um wiedergutzumachen, was er versäumt hatte.
Damson sprach auch von dem Talbewohner, und der Klang ihrer Stimme verriet ihre Gefühle deutlicher als alle Worte. Da war ein Flüstern ihres eigenen Gefühls des Verlustes, ihres eigenen Gefühls, versagt zu haben. Sie hatte sich für Padishar Creel anstatt für Par entschieden, und obwohl diese Wahl sicherlich gerechtfertigt war, bedeutete dieses Wissen für sie keinen Trost.
»Ich bin es leid, eine Wahl treffen zu müssen, Morgan Leah«, flüsterte sie ihm zum Schluß zu. Sie hatten eine Zeitlang nicht gesprochen, hatten sich in ihrem Versteck zurückgelegt und an warmem Wasser genippt, um ihre Körper vor dem Austrocknen zu bewahren. Ihre Hand vollführte eine hilflose Geste.
»Ich bin es leid, gezwungen zu werden, zu wählen oder ständig irgendwelche Entscheidungen zu treffen, die ich nicht treffen will, denn bei allem, was ich entscheide, weiß ich, daß ich jemanden verletzen werde.« Sie schüttelte den Kopf, und Kummerfalten zogen sich über ihre Stirn. »Ich bin ganz schlicht und einfach müde, Morgan, und ich weiß nicht, ob ich noch weitermachen kann.«
Ihre so lange unterdrückten Gedanken und Gefühle trieben ihr Tränen in die Augen. Er schüttelte den Kopf. »Ihr werdet weitermachen, weil Ihr es müßt, Damson. Das Schicksal der Menschen hängt davon ab, daß Ihr es tut. Ihr wißt das. Padishar jetzt. Par später.« Er richtete sich auf. »Macht Euch keine Sorgen, wir werden ihn finden, Ihr und ich. Wir werden nicht aufhören, bis wir es geschafft haben. Wir dürfen nicht vorher ermüden, nicht wahr?«
Er hatte das Gefühl, daß seine Worte herablassend klangen, und mochte das nicht. Aber sie nickte als Antwort, wischte sich die Tränen fort, und sie begannen erneut, auf Matty Roh zu warten.
Die Nacht brach herein, und sie war noch immer nicht zurückgekehrt. Schatten schlössen das Licht aus, und der Himmel verdunkelte sich schnell und füllte sich mit Sternen. Im Westen, weiter entfernt, als sie sehen konnten, kam die Unwetterfront stetig näher, und innerhalb der Mauern der Stadt begann die Luft mit ihrem Herannahen abzukühlen.