Damson erhob sich. »Ich kann nicht länger warten, Hochländer. Ich muß jetzt gehen, wenn ich den Maulwurf finden und dann noch Zeit haben soll, die Geächteten in die Stadt zu bringen.« Sie legte ihren Umhang um und band ihn fest. »Wartet hier auf Matty. Wenn sie kommt, findet so viel heraus, wie Ihr könnt, was uns helfen könnte.«
»Wenn sie kommt«, wiederholte Morgan. »Vorausgesetzt, sie kommt.«
Sie griff hinab und berührte ihn leicht an der Schulter. »Was auch immer geschieht, ich werde zu Euch zurückkommen, so schnell ich kann.«
Er nickte. »Viel Glück, Damson. Seid vorsichtig.«
Sie lächelte und verschwand über den dunklen Hof in die Schatten. Das Geräusch ihrer Schritte hallte auf dem Stein wider und wurde dann von der Stille aufgesogen.
Morgan saß allein in der Dunkelheit und lauschte darauf, wie die Geräusche der Stadt langsam leiser wurden und dann ganz erstarben. Über ihm zogen Wolken über die Sterne und begannen sie zu verhüllen. Die Nacht wurde dunkler, und eine seltsame Stille legte sich über die Klippe. Padishar, dachte er, halte durch, wir kommen. Irgendwie kommen wir.
Er versuchte zu schlafen und konnte es nicht. Er versuchte zu überlegen, was er tun könnte, aber alles hätte bedeutet, daß er sein Versteck hätte verlassen müssen, und wenn er dies tat, würde er wahrscheinlich nicht zurückgelangen. Er mußte warten. Befreiungspläne bevölkerten seinen Geist, aber sie waren so flüchtig wie Rauch, nährten sich aus reiner Spekulation und nicht aus Tatsachen und blieben daher nutzlos. Er hätte so gern das Schwert von Leah bei sich gehabt, um sich nicht so wehrlos zu fühlen. Er hätte gern bei seinen Versuchen, seinen Freunden zu helfen, eine bessere Wahl getroffen. Er wünschte sich in eine dunkle Ecke und war gezwungen, seine Wünsche aufzugeben, weil er fürchtete, daß sein Kummer ihn lahmen könnte.
Es war fast Mitternacht, als er das Schaben von Stiefeln auf dem Stein des Hofes hörte. Als er von seinem leichten Schlummer aufsah, stand Matty Roh plötzlich in dem verblassenden Sternenlicht vor ihm. Er richtete sich ruckartig auf, und sie bedeutete ihm, leise zu sein. Sie kam zu der Stelle herüber, wo er wartete, und setzte sich schwer atmend neben ihn.
»Ich bin die letzte Meile gerannt«, sagte sie. »Ich hatte Angst, Ihr wäret fort.«
»Nein.« Er wartete. »Seid Ihr in Ordnung?«
Sie sah ihn an, und ihr Blick zeigte Beunruhigung. »Damson?«
»Sie ist auf die Suche nach dem Maulwurf gegangen, und dann will sie Chandos und die anderen durch die Tunnel hereinbringen. Sie wird uns in der Dämmerung hier wieder treffen.«
Mattys Lächeln war angstvoll und suchend. »Ich bin froh, daß Ihr hier seid.«
Er lächelte zurück, aber das Lächeln schien falsch, und er ließ es fallen. »Was ist geschehen, Matty?«
»Ich habe ihn gefunden.«
Morgan atmete tief ein. »Erzählt es mir«, drängte er sanft, obwohl er spürte, daß man sie nicht zur Eile antreiben durfte. Ein Schweißfilm lag auf ihrer Haut, und sie hatte einen seltsamen Ausdruck in ihren Augen.
Sie beugte sich vor, so daß sich ihre Schultern berührten. Ihre jungenhaften, zarten Gesichtszüge waren angespannt, und da war eine Dringlichkeit, die so spürbar war wie das Licht. »Ich habe in den Schenken angefangen, habe beobachtet und zugehört. Ich habe leichte Bekanntschaften gemacht, Soldaten, einen untergeordneten Offizier. Ich habe aus ihnen herausgeholt, was ich konnte, und bin dann weitergegangen. Padishars Name wurde erwähnt, aber nur nebenbei, in Verbindung mit der Hinrichtung. Die Nacht brach herein, und ich hatte noch immer nicht erfahren, wo sie ihn gefangenhalten.«
Sie schluckte, griff nach dem Wassergefäß, goß einen Becher daraus ein und trank in tiefen Zügen. Er konnte die Kraft in ihrem schlanken Körper spüren, als sie den seinen berührte.
Sie wandte sich wieder um. »Ich war sicher, daß sie ihn irgendwo gefangenhalten, wo niemand gern hingeht. Der Wachturm war ein Trick, wo sonst konnte er also sein? Es gibt Gefängnisse, aber von dort würde etwas durchdringen. Es mußte an einem Ort sein, den niemand gern aufsucht.«
Morgan wurde blaß. »Die Grube.«
Sie nickte. »Ja.« Sie hielt ihren Blick auf ihn gerichtet. »Ich bin zum Volkspark gegangen und habe das Wachhaus schwer bewacht vorgefunden. Warum war das wohl so, fragte ich mich. Ich wartete, bis ein Offizier herauskam, ein hochgestellter, einer, der etwas zu erzählen haben würde. Ich folgte ihm und setzte mich dann mit ihm zum Trinken hin. Ich ließ es dahin kommen, daß er mich davon überzeugen wollte, mit ihm an einen verschwiegenen Ort zu gehen. Als ich ihn allein hatte, legte ich ein Messer an seine Kehle und stellte ihm Fragen. Er wich aus, aber ich habe erreicht, daß er zugab, was ich bereits wußte: daß Padishar in seinen Zellen gefangengehalten wird.«
»Lebt er denn noch?«
»Er lebt, damit er öffentlich hingerichtet werden kann. Sie wollen vermeiden, daß hinterher Gerüchte die Runde machen, er habe entkommen können. Sie wollen, daß jedermann sieht, wie er stirbt.«
Sie sahen einander in der Dunkelheit an. Die Grube, dachte Morgan mit einem Gefühl der Übelkeit im Magen. Er hatte gehofft, niemals wieder dorthin zurückkehren zu müssen, niemals wieder auch nur in ihre Nähe kommen zu müssen. Er dachte an die Wesen, die dort lebten, die Ausgeburten der Schattenwesen, die Monster, die von der Barriere der Magie festgehalten wurden. Sie hatten das Schwert von Leah zerstört...
Er schob den Gedanken beiseite. Die Grube. Zumindest wußte er, was ihm bevorstand. Mit diesem Wissen konnte er einen Plan ersinnen.
»Habt Ihr sonst noch etwas erfahren?« fragte er leise.
Sie schüttelte den Kopf. Er konnte den Pulsschlag an ihrer Kehle sehen, den schwarzen Helm ihres Haars als Umrahmung ihres zarten Gesichts erkennen.
»Und der Offizier?«
Ein langes Schweigen entstand, während sie ihm in die Augen blickte und etwas jenseits und weit entfernt ansah. Dann schenkte sie ihm ein leeres Lächeln.
»Als ich mit ihm fertig war, habe ich ihm die Kehle durchschnitten.«
22
Danach schwiegen sie. Sie saßen Seite an Seite auf einer Werkbank, berührten sich noch immer und schauten in die Dunkelheit hinaus. Mehrere Male dachte Morgan daran, aufzustehen und sich zu entfernen, aber er hatte Angst, daß sie den Grund dafür mißverstehen würde, und blieb daher, wo er war. Der Klang von Gelächter durchdrang die Stille des Hofes von irgendwo außerhalb her. Es dröhnte rauh und unwillkommen und schien Nerven, die bereits stark beansprucht waren, noch mehr zu strapazieren. Morgan wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war. Er wußte, daß er etwas sagen sollte. Er hätte dem dunklen Bild ihrer Worte etwas entgegensetzen müssen. Aber er wußte nicht, wie er das tun sollte.
Ein Hund bellte in der Ferne. Es war ein lang anhaltender, abgehackter Laut, der mit beißender Schärfe verhallte.
»Es gefällt Euch nicht, daß ich ihn getötet habe«, sagte sie schließlich. Es war keine Frage, es war die Feststellung einer Tatsache.
»Nein, es gefällt mir nicht.«
»Denkt Ihr, ich hätte etwas anderes tun sollen?«
»Ja.« Er gestand dies nur ungern ein. Er mochte es nicht, wie er klang. Aber er konnte nicht anders.
»Was hättet Ihr getan?«
»Ich weiß es nicht.«
Sie legte ihre Hände auf seine Schultern und wandte sich um, bis sie einander ansahen. Ihre Augen waren Nadelstiche blauen Lichts. »Schaut mich an.« Er tat es. »Ihr hättet dasselbe getan.«
Er nickte, aber er war nicht überzeugt davon.
»Ihr hättet es getan, denn wenn Ihr aufhört, darüber nachzudenken, dann gab es keine andere Wahl. Dieser Mann wußte, wer ich war. Er wußte, was ich vorhatte. Er hat mich bestimmt nicht mißverstanden. Wenn ich ihn am Leben gelassen hätte, selbst wenn ich ihn gefesselt und irgendwo versteckt hätte, hätte er entkommen können. Oder gefunden werden können. Oder etwas anderes. Wenn das geschehen wäre, wären wir erledigt gewesen. Eure Pläne, wie auch immer sie aussehen mögen, hätten keine Chance mehr gehabt. Und ich muß nach Varfleet zurückkehren. Dort hätte er mich sehen können, und dann hätte er es gewußt. Versteht Ihr?«