Er nickte erneut. »Ja.«
»Aber es gefällt Euch noch immer nicht.« Ihre rauhe, leise Stimme war nur ein Flüstern. Sie schüttelte den Kopf, so daß ihr schwarzes Haar flog. Tiefe Traurigkeit lag in ihrer Stimme. »Mir auch nicht, Morgan Leah. Aber ich habe schon vor langer Zeit gelernt, daß es eine Menge Dinge gibt, die ich tun muß, um überleben zu können, obwohl sie mir nicht gefallen. Und ich kann es nicht ändern. Es ist lange her, daß ich ein Heim oder eine Familie oder ein Land oder etwas oder jemanden außer mir selbst gehabt habe, worauf ich mich verlassen konnte.«
Er unterbrach sie und war plötzlich beschämt. »Ich weiß.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das tut Ihr nicht.«
»Doch. Was Ihr getan habt, war notwendig, und ich sollte es nicht falsch finden. Wahrscheinlich stört mich allein die Vorstellung davon. Ich habe einfach ein anderes Bild von Euch.«
Sie lächelte traurig. »Das kommt nur daher, daß Ihr mich nicht richtig kennt, Morgan. Ihr seht mich eine kurze Zeit lang auf eine Weise, und so bin ich dann für Euch. Aber ich bin eine ganze Menge mehr, als Ihr bis jetzt kennengelernt habt. Ich habe schon zuvor Menschen getötet. Ich habe sie von Angesicht zu Angesicht getötet und auch aus dem Hinterhalt. Ich habe es getan, um überleben zu können.« Tränen traten in ihre Augen. »Wenn Ihr das nicht verstehen könnt...«
Sie hielt inne, biß sich auf die Lippen, erhob sich abrupt und trat fort. Er versuchte nicht, sie aufzuhalten. Er beobachtete, wie sie zur anderen Seite des Hofes ging und sich, mit dem Rücken gegen die Wand, in den tiefen Schatten auf die Steine setzte. Lange Zeit verharrte sie dort regungslos im Dunkeln. Die Zeit verging, und Morgans Augen wurden schwer. Er hatte seit der vorigen Nacht nicht mehr geschlafen und auch da nur schlecht. Die Dämmerung würde eher hereinbrechen, als er dachte, und er würde erschöpft sein. Er hatte noch keinen Befreiungsplan für Padishar Creel – er hatte die Angelegenheit noch nicht einmal überdacht. Er fühlte sich aller Gedanken und Hoffnungen beraubt.
Schließlich breitete er seinen Umhang auf dem Boden des Schuppens aus, bildete mit den Lumpen, die sie hereingetragen hatten, ein Kissen und legte sich hin. Er versuchte, über Padishar nachzudenken, aber er schlief fast augenblicklich ein.
Irgendwann während der Nacht wurde er von einer Bewegung neben sich geweckt. Er spürte, wie sich Matty Roh neben ihm zusammenrollte und sich ihr Körper eng gegen den seinen schmiegte. Ein schlanker Arm griff um ihn herum, und ihre Hand fand die seine.
So lagen sie den Rest der Nacht beisammen.
Es dämmerte schon fast, als er davon geweckt wurde, daß Damson ihn an der Schulter berührte. Ein Hellerwerden war in den Zwischenräumen der Schatten zu erkennen, das den hereinbrechenden Tag ankündigte, schwache und silbrige Linien vor den Mauern, die sie umgaben. Er blinzelte sich den Schlaf aus den Augen und erkannte, wer neben ihm kauerte. Er lag noch immer mit Matty verschlungen da und stieß sie jetzt sanft an. Zusammen standen sie steif und unbeholfen auf.
»Sie sind hier«, sagte Damson einfach. Ihre Augen enthüllten nichts von dem, was sie dachte, nachdem sie sie zusammen vorgefunden hatte. Sie deutete über ihre Schulter. »Der Maulwurf hält sie in einem Keller in der Nähe verborgen. Er hat mich letzte Nacht gefunden, kurz nachdem ich Euch verlassen hatte, hat mich durch die Tunnel geführt, und gemeinsam haben wir Chandos und die anderen hereingebracht. Wir sind bereit. Habt Ihr Padishar gefunden?«
Morgan nickte. Er war jetzt vollständig wach. »Matty hat ihn gefunden.« Er betrachtete das Elfengesicht. »Ich hätte es, glaube ich, nicht gekonnt.«
Damson lächelte die junge Frau dankbar an und ergriff deren schlanke Hände mit den ihren. »Danke, Matty. Ich hatte Angst, daß dies alles umsonst gewesen sein könnte.«
Mattys kobaltblaue Augen schimmerten wie Steine. »Dankt mir noch nicht. Wir müssen ihn dort erst herausholen. Er wird in den Zellen des Wachhauses der Grube gefangengehalten.«
Damsons Kiefer verkrampfte sich. »Natürlich. Sie mußten ihn dorthin bringen, nicht wahr?« Sie wirbelte herum. »Morgan, wie werden wir...«
»Wir sollten uns besser beeilen«, sagte er und unterbrach sie schnell. »Ich werde es Euch sagen, wenn wir die anderen erreicht haben.«
Wenn mir bis dahin etwas einfällt, fügte er im stillen hinzu. Aber die Anfänge eines Gedankens formten sich bereits in seinem Unterbewußtsein, ein Plan, der beim Erwachen plötzlich aufgetaucht war. Er warf sich den Umhang um, und zusammen verließen die drei den kleinen Hof, gingen durch das Vorderhaus wieder hinaus und betraten die Straße.
Dort war es still und leer. Die Straße war ein schwarzer Gang, der durch Gebäudemauern schnitt, bis er in einem Gewirr von Querstraßen und Durchgängen verschwand. Sie gingen schnell voran, hielten sich hinter ihren Schatten an den Mauern und drängten durch die Schwärze der vergehenden Nacht. Morgans Geist arbeitete jetzt. Er überdachte die Möglichkeiten wieder und wieder, überprüfte sie und bedachte die Alternativen. Sie wollten Padishar gegen Mittag hinrichten. Er sollte an den Stadttoren aufgehängt werden. Um das tun zu können, würden sie ihn vom Wachhaus an der Grube zu der Außenmauer transportieren müssen. Wie würden sie dies bewerkstelligen? Sie würden ihn sicherlich die Tyrsian-Allee hinabbringen, die breit und leicht zu überwachen war. Würde er laufen? Nein, das war zu langsam. Auf dem Pferderücken oder in einem Wagen? Ja, in einem Wagen stehend, damit jedermann ihn sehen konnte...
Sie wandten sich einem Gang zu, der zwischen zwei Gebäuden zu einer Sackgasse führte. Auf halbem Wege hinab befand sich eine Tür, und sie traten hindurch. Innen war es dunkel, aber sie bahnten sich ihren Weg bis zu einer Tür in der entgegengesetzten Wand, die sich zu einem flackernden Lampenlicht hin öffnete. Chandos stand mit struppigem, schwarzem Bart in der Tür. Er hielt das Schwert in der Hand. Der kleine Trupp von vierundzwanzig Leuten hatte fast die ganze Nacht gebraucht, um durch die Tunnel nach Tyrsis hineinzugelangen, aber sie schienen frisch und ungeduldig, und Entschlossenheit lag in ihren Augen. Chandos reichte Morgan das Schwert von Leah, und der Hochländer band es auf seinen Rücken. Er war genauso begierig wie sie.
Er sah sich nach dem Maulwurf um und konnte ihn nirgends entdecken. Als er nach ihm fragte, sagte Damson ihm, er halte Wache.
»Ich werde ihn brauchen, damit er mir zeigt, wo die Tunnel unter den Straßen verlaufen«, verkündete er. »Und ich werde Euch brauchen, damit Ihr mir eine Karte der Stadt zeichnet, damit er das tun kann.«
»Hast du einen Plan, Hochländer?« fragte Chandos und drängte sich nahe heran.
Gute Frage, dachte Morgan. »Ja«, erwiderte er und hoffte, daß er recht hatte.
Dann zog er sie nahe heran und erklärte ihnen, wie dieser Plan aussah.
Die Dämmerung zog grau und bedrückend herauf, und die Gewitterwolken bewegten sich zum Rande des Callahorns. Trotz der aufgewühlten, schwarzen Wolken, die ihre dunklen Schatten östlich über den Runne warfen, war es heiß und stickig in der Stadt Tyrsis, als ihre Bewohner erwachten, um ihre Tagesarbeit zu beginnen. Die Luft war erfüllt von dem Geruch von Schweiß und Staub und Essensdunst vom Vortag. Männer und Frauen schauten zum Himmel und warteten sehnsüchtig auf den bevorstehenden Regen, damit er ihnen zumindest ein geringes Maß an Erleichterung gewährte.
Als der Morgen dem Mittag zuging, begann sich Erregung wegen der bevorstehenden Hinrichtung des Geächteten Padishar Creel auszubreiten. Die Menge versammelte sich erwartungsvoll, erregt und matt von der Hitze an den Stadttoren. Sie wartete begierig auf jegliche Form von Zerstreuung. Läden wurden geschlossen, Verkäufer räumten ihre Stände ab, und die Arbeit wurde beiseite gelegt, als die Stimmung immer ausgelassener wurde. Es gab Possenreißer, Gauner, Verkäufer von Getränken und Süßigkeiten, Straßenhändler und Mimen, aber auch Föderationsposten überall, die mit ihren schwarzen und scharlachroten Uniformen von der inneren bis zur äußeren Mauer die Tyrsian-Allee säumten. Als die Mittagszeit näher kam und die Gewitterwolken den Himmel von Horizont zu Horizont ausfüllten und Regen als dünner Schleier zu fallen begann, wurde es dunkler.