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Laß mich nicht los, betete er im stillen. Laß mich nicht fallen.

Staub und Feuchtigkeit erfüllten seine Lungen, und er hustete gegen die Dichte der Luft an und kämpfte um Atem. Seine Müdigkeit lastete schwer auf ihm, als lägen Ketten an seinen Gliedern und auf seinem Körper. Sie liefen weiter, und das Licht wurde jetzt heller und kam näher. Mattys abgehackter Atem paßte zu dem Trommeln ihrer Stiefel auf dem Stein. Das Blut pulsierte in seinen Ohren.

Dann befanden sie sich in dem Licht, einer Säule der Helligkeit von einem Abflußgitter in der darüberliegenden Straße. Regen stürzte kaskadenförmig herab und bildete einen silbernen Vorhang, und Donner rollte über den Himmel. Matty brach an einer Wand zusammen und zog ihn mit sich hinab. Sie saßen mit den Rücken gegen den kühlen Stein und keuchten.

Sie wandte sich ihm zu. Ihre Augen waren ungezähmt und wild, und ihre verlorenen Gesichtszüge leuchteten. Sie sah aus, als wollte sie vor Freude aufschreien. Sie sah aus, als hätte sie etwas entdeckt, das sie für immer verloren geglaubt hatte.

»Das war wunderbar!« sagte sie und lachte wie ein Kind.

Als sie das Erstaunen in seinem Gesicht sah, beugte sie sich schnell hinüber und küßte ihn fest auf den Mund. Sie behielt diesen Kuß lange bei, legte ihre Arme um ihn und hielt ihn fest.

Dann gab sie ihn frei, lachte erneut und zog ihn hoch. »Komm, wir müssen die anderen einholen! Komm, Morgan Leah! Lauf!«

Sie gingen den Tunnel weiter hinab, und die Geräusche des Unwetters folgten ihnen in die Dunkelheit. Sie liefen nicht weit, sondern verhielten ihren Schritt, als ihre Kraft nachließ. Ihr Sehvermögen paßte sich der Dämmerung an, und sie konnten die Bewegungen der Ratten ausmachen. Der Regen schoß die Gitter in immer heftigeren Bächen herab, und bald standen sie knöcheltief im Wasser. Von Lichtschacht zu Lichtschacht bahnten sie sich ihren Weg, lauschten auf die Geräusche sowohl jener, die ihnen vielleicht folgen würden, als auch jener, die sie suchten. Sie hörten Schreie und Rufe von den Straßen, das Galoppieren von Pferden, das Rumpeln von Wagen und das dumpfe Aufschlagen von Stiefeln. Die Stadt wimmelte von Soldaten, die nach ihnen suchten, aber im Moment waren es nur oberirdische Geräusche.

Noch immer war kein Zeichen von Damson und den Geächteten zu sehen.

Schließlich erreichten sie eine Abzweigung in dem Gang, so daß sie wählen mußten. Morgan tat sein Bestes, aber es gab nichts, was ihm bei dieser Entscheidung hätte helfen können. Wenn das Regenwasser das untere Stockwerk nicht überflutet hätte, wären dort vielleicht Spuren gewesen. Sie drängten vorwärts, Seite an Seite, Matty Roh dicht bei ihm, als fürchtete sie, sie könne ihn an die Dunkelheit verlieren. Die Entfernung zwischen den Gittern begann größer zu werden, bis der Tunnel so dunkel war, daß sie kaum noch etwas sehen konnten.

»Ich glaube, wir haben eine Abzweigung verpaßt«, sagte Morgan leise und ärgerlich.

Sie gingen wieder zurück und versuchten es erneut. Der neue Gang führte in Windungen zunächst scharf zu einer und dann zu der anderen Seite, und erneut vergrößerte sich der Abstand zwischen den Gittern, und das Licht begann schwächer zu werden. Sie fanden eine geschwärzte, in die Steinmauer getriebene Fackel, und es gelang ihnen, sie mit Mattys Feuersteinen zu entzünden. Es dauerte lange, und als die Fackel brannte, konnten sie Bewegung in den wassergefüllten Gängen hinter sich hören.

»Sie sind dort hereingekommen – oder haben einen anderen Weg gefunden«, flüsterte das Mädchen und lächelte ihm heimlich zu. »Aber sie werden uns nicht erwischen, und wenn es ihnen gelingen sollte, werden sie es bitter bereuen. Komm!«

Sie eilten durch Tunnel voran, die zunehmend enger wurden. Die Gitter verschwanden schließlich vollständig, und die Fackel wurde zu ihrer einzigen Lichtquelle. Die Stunden vergingen, und es wurde offensichtlich, daß sie sich hoffnungslos verirrt hatten. Keiner von beiden sagte es, aber sie wußten es beide. Irgendwie hatten sie die falsche Richtung eingeschlagen. Es war noch immer möglich, daß sie herausfinden würden, aber Morgan zweifelte daran. Sogar Damson, die in der Stadt lebte und oft in die Tunnel hinabkam, hatte nicht erwartet, das Labyrinth von Gängen ohne die Hilfe des Maulwurfs durchqueren zu können. Er fragte sich, was aus ihr und den anderen Geächteten geworden war. Er fragte sich, ob sie wohl annahmen, daß er und Matty tot wären.

Sie fanden eine weitere Fackel, die in besserem Zustand war, und nahmen sie als Reserve mit. Als der mit Pech bestrichene Teil der ersten abgebrannt war, benutzte Morgan den Stumpf dazu, ihre Reservefackel zu entzünden, und dann gingen sie weiter. Sie wanden sich tiefer in die Klippe hinein und konnten den Regen nicht mehr sehen und hören. Die Geräusche waren jetzt gedämpft und verklangen dann ganz. Nur ihr Atmen und ihre Schritte waren noch zu hören. Morgan versuchte, eine Richtung festzulegen, aber die Tunnel kreuzten sich so oft und führten so oft wieder zurück, daß er es aufgab. Die Stunden verrannen, aber es gab keine Möglichkeit festzustellen, wieviel Zeit vergangen war. Sie wurden hungrig und durstig, aber es war nichts zu essen oder zu trinken da.

Schließlich blieb Morgan stehen und wandte sich Matty zu. »So kommen wir nirgendwohin. Wir müssen etwas anderes versuchen. Wir sollten den Weg wieder zurück zur ersten Ebene finden. Vielleicht können wir heute nacht in die Stadt hinausschlüpfen und morgen durch die Tore entkommen.«

Das war allenfalls eine geringe Hoffnung – die Föderation würde sicherlich überall nach ihnen suchen –, aber alles war besser, als hoffnungslos in der Dunkelheit umherzuirren. Die Nacht würde bald hereinbrechen, und Morgan mußte ununterbrochen an die Schattenwesen denken. Damson hatte ihm erzählt, daß sie die der Grube am nächsten gelegenen Tunnel durchstöberten. Angenommen, sie stolperten in ein Monster hinein. Es war zu gefährlich für sie, noch länger hier unten zu bleiben.

Sie gingen zurück, suchten sich einen aufwärts führenden Tunnel aus und liefen ihn hinunter, während die Fackel langsam erlosch. Sie wußten, daß die Zeit knapp wurde, wenn sie nicht bald wieder auf die Straßen der Stadt gelangten, denn ihr Licht würde verlöschen und sie würden in der Dunkelheit festsitzen. Aber jetzt hörten sie in der Ferne fortwährend Geräusche, die Bewegungen von Männern, die durch Wasser und Feuchtigkeit stapften, das Flüstern von Stimmen. Die Jäger strömten ihnen offenbar entgegen, und sie waren nicht näher daran als zuvor, einen Weg an ihnen vorbei zu finden.

Es dauerte lange, bis sie die Abwasserkanäle wieder erreicht hatten und einen Streifen Tageslicht durch ein Straßengitter fallen sahen. Das Licht war jetzt schwach und vergänglich, denn der Tag ging schnell der Dunkelheit entgegen. Der Regen war in ein sanftes Nieseln übergegangen, und die Stadt war still und machte einen verlassenen Eindruck. Sie gingen weiter, bis sie eine Leiter nach oben fanden. Morgan atmete tief ein und stieg hinauf. Als er durch das Gitter hinausspähte, sah er gegenüber von sich Föderationssoldaten, die grimmig und schweigend in der Dämmerung lauerten. Er kletterte geräuschlos wieder bergab, und sie gingen weiter.

Ihre Fackel erlosch, und das Tageslicht wurde zu Dunkelheit. Der Himmel war so bewölkt, daß in den Tunneln fast kein Licht mehr zu sehen war, und die Geräusche ihrer Jäger verklangen und wurden von dem Vorbeihuschen der Ratten und dem Tröpfeln der Abflüsse abgelöst. Alle Gitteröffnungen, die sie überprüften, waren bewacht. Sie gingen weiter, denn sie konnten nichts anderes tun, und sie fürchteten, daß sie vielleicht nicht wieder weitergehen könnten, wenn sie erst einmal stehenblieben.

Morgan begann bereits zu verzweifeln, als Augen vor ihm auftauchten. Katzenaugen, die in der Dunkelheit schimmerten und dann verschwanden.

Morgan blieb sofort stehen. »Hast du was gesehen?« flüsterte er Matty Roh zu.

Er spürte ihr Nicken mehr, als er es sah. Sie standen lange Zeit wie festgefroren, denn sie wollten sich nicht bewegen, bevor sie wußten, was dort draußen war. Diese Augen hatten keiner Ratte gehört.