Er sah dem Wesen, das ihm folgte, erwartungsvoll entgegen.
Es kroch aus der Nacht heraus wie eine Katze, ein Wesen ohne Form oder Substanz. Er konnte es spüren, lange bevor er es sah. Er konnte spüren, wie es ihn beobachtete, dann wie es atmete, dann wie es sich heranzog. Es befand sich zuerst auf einer Seite und dann auf der anderen und schließlich überall. Aber er wußte, daß er so lange nicht in Gefahr war, bis er das Gesicht des Wesens sehen konnte. Es wand und drehte sich um ihn herum, blieb sorgfältig außer Reichweite, und er wartete darauf, daß es müde würde.
Dann begann es sich zu materialisieren, und es war nicht seltsam oder mißgebildet und auch nicht so groß. Sein Körper hatte die Größe und Gestalt seines eigenen, und es stand direkt vor ihm und glich ihm in allem. Bis auf sein Gesicht. Er ließ die Magie des Wunschgesangs in seine Fingerspitzen fließen und hielt sie dort fest wie einen in einer Bogensehne zurückgezogenen Pfeil, fest angespannt, voller Begierde, ausgelöst zu werden, rasiermesserscharf. Das Wesen vor ihm beobachtete ihn. Sein Kopf war jetzt ihm zugewandt, aber sein Gesicht war trübe und verschwommen. Seine Stimme flüsterte erneut.
Schattenwesen. Schattenwesen.
Dann setzte sich sein Gesicht zusammen, und Par betrachtete sich selbst.
Schattenwesen. Schattenwesen.
Par erschauerte und ließ die Magie des Wunschgesangs auf das Wesen zuschießen. Das Wesen fing sie auf, und sie war fort. Par sandte die Magie ein zweites Mal, ein Hammerschlag der Macht, der das Wesen in Rauch verwandeln mußte. Das Wesen schluckte sie, als sei sie Luft. Sein Gesicht lächelte ihn an, wirkte hohl und an den Rändern ausgefranst, ein Trugbild, das wieder in der Hitze zu verschwinden drohte.
Weißt du nicht?
Erkennst du nicht?
Die Stimme flüsterte listig und haßerfüllt auf ihn ein, und er griff erneut an, und wieder und wieder flog die Magie aus ihm heraus. Aber etwas Seltsames geschah. Je stärker er die Magie anrief, desto erfreuter schien das Wesen zu sein. Er konnte seine Befriedigung spüren, als sei sie greifbar. Er konnte sein Vergnügen spüren. Das Wesen verwandelte sich, gewann noch mehr an Substanz, nährte sich von der Magie und saugte sie in sich ein.
Verstehst du nicht?
Par stöhnte auf und trat zurück. Er war sich jetzt bewußt, daß er sich ebenfalls verwandelte, Form und Gestalt verlor und sich zersetzte wie Holz, das zu Asche wird. Er klammerte sich verzweifelt an sich selbst und sah, wie die Hände durch seinen Körper hindurchglitten. Das Wesen kam näher und streckte sich nach ihm aus. Er sah sich selbst in seinen Augen widergespiegelt.
Schattenwesen. Schattenwesen.
Er sah sich selbst, und er erkannte, daß kein Unterschied mehr zwischen ihnen bestand. Er selbst war zu dem Wesen geworden.
Er schrie, als es ihn in seine Arme nahm und ihn langsam in sich hineinzog.
Der Traum endete, und Par wachte taumelnd auf. Er war benommen, und sein Atem klang in der Stille abgehackt und rauh. Nur ein Traum, dachte er. Er legte das Gesicht in die Hände und wartete darauf, daß die Benommenheit verging. Ein Alptraum, aber so real! Er schluckte gegen seine Angst an.
Dann öffnete er die Augen wieder und schaute sich um. Er befand sich in einem Raum, der so dunkel war wie der Wald, durch den er geflohen war. Der Raum roch nach Moder und Verfall. Die Fenster in einer gegenüberliegenden Wand öffneten sich in den bewölkten und mondlosen Nachthimmel. Die Luft fühlte sich heiß und stickig an, und es wehte kein Wind. Er saß auf einem Bett, das kaum mehr als ein Holzrahmen und ein Strohsack war, und seine Kleidung war feucht und steif von getrocknetem Schmutz.
Dann erinnerte er sich.
Die Ebenen, der Sturm, der Kampf mit Coll, daß sie die Magie des Schwertes von Shannara ausgelöst hatten, das Herannahen der Schattenwesen, das Erscheinen des Königs vom Silberfluß, das Licht und dann das Dunkel – die Bilder zogen blitzartig an ihm vorüber.
Wo war er?
Ein Licht flackerte plötzlich von der anderen Seite des Raumes her auf, ein schimmerndes Glühwürmchen, das auf den Fingerspitzen eines bis zum Ellenbogen behandschuhten Armes saß. Das Licht ließ sich auf einer Lampe nieder, und die Lampe wurde hell und warf ihren Schein über die Schatten.
»Jetzt, wo du wach bist, können wir uns vielleicht unterhalten.«
Eine Gestalt in einem schwarzen Umhang trat ins Licht. Sie war groß und schlank, und ihr Kopf war mit einer Kapuze bedeckt. Sie bewegte sich lautlos, anmutig und leicht, und auf der Brust schimmerte das weiße Emblem eines Wolfskopfes.
Felsen-Dall.
Par spürte von Kopf bis Fuß Kälte, und er konnte sich nur mühsam daran hindern, davonzustürzen. Er betrachtete schnell die Steinmauern rundum, die Riegel an den Fenstern, die eisenbeschlagene Holztür, die hinter Felsen-Dall geschlossen worden war. Er befand sich in der Südwache. Er sah sich nach dem Schwert von Shannara um. Es war fort. Und Coll war auch nicht da.
»Du scheinst nicht gut geschlafen zu haben.«
Felsen-Dalls flüsternde Stimme schwebte durch die Stille. Er zog die Kapuze zurück, und sein grobknochiges, bärtiges Gesicht wurde im Licht gefangen. Es blieb eine ausdruckslose Maske. Wenn Felsen-Dall Pars Qual bemerkte, so zeigte er es nicht. Er trat zu einem Stuhl und setzte sich hin. »Möchtest du etwas essen?«
Par schüttelte den Kopf. Er traute sich nicht zu sprechen. Seine Kehle fühlte sich trocken und eng an, und seine Muskeln waren verkrampft. Gerate nicht in Panik, sagte er sich. Bleibe ruhig. Er zwang sich, langsam und tief und regelmäßig zu atmen. Er schwang seine Beine auf dem Bett herum und stellte die Füße auf den Boden, versuchte aber nicht aufzustehen. Felsen-Dall beobachtete ihn aus unermeßlich tiefen Augen. Sein Mund war eine schmale, zusammengepreßte Linie, sein Körper regungslos. Wie eine Katze auf dem Sprung, dachte Par.
»Wo ist Coll?« fragte er, und seine Stimme klang fest.
»Der König vom Silberfluß hat ihn mitgenommen.« Die flüsternde Stimme klang glatt und seltsam tröstlich. »Er hat auch das Schwert von Shannara mitgenommen.«
»Aber es ist Euch gelungen, ihn daran zu hindern, auch mich mitzunehmen.«
Der Erste Sucher lachte leise. »Das hast du selbst getan. Ich hatte nichts damit zu tun. Du hast den Wunschgesang benutzt, und die Magie hat gegen dich gearbeitet. Sie zwang den König vom Silberfluß von dir fort.« Er hielt inne. »Die Magie wird immer unberechenbarer, nicht wahr? Erinnerst du dich, wie ich dich davor gewarnt habe?«
Par nickte. »Ich erinnere mich. Ich erinnere mich an alles. Aber es ist nicht wichtig, an was ich mich erinnere, denn ich würde Euch nicht einmal glauben, wenn Ihr mir sagtet, daß die Sonne im Osten aufgeht. Ihr habt mich von Anfang an belogen. Ich weiß nicht, warum, aber Ihr habt es getan. Und ich werde nicht mehr zuhören, also könnt Ihr genausogut tun, was Ihr vorhattet, und es dabei bewenden lassen.«
Felsen-Dall betrachtete ihn schweigend. Dann sagte er: »Sage mir, worin ich dich belogen habe.«
Par war zornig. Er wollte sprechen, hielt aber dann inne, denn er wurde sich plötzlich der Tatsache bewußt, daß er sich an keine spezifische Lüge des großen Mannes erinnern konnte. Die Lügen waren da, so deutlich wie der Wolfskopf, der auf den schwarzen Gewändern schimmerte, aber er konnte sie anscheinend nicht greifen.
»Ich habe dir bei unserer Begegnung gesagt, daß ich ein Schattenwesen bin. Ich habe dir das Schwert von Shannara gegeben und zugelassen, daß du es gegen mich ausprobierst, um herauszufinden, ob ich log. Ich habe dich gewarnt, daß deine Magie eine Gefahr für dich sein könnte, daß sie dich verwandeln würde und daß du sie vielleicht nicht ohne Hilfe würdest kontrollieren können. Worin lag bei alledem die Lüge?«