Sie atmete scharf durch die Nase aus, kämpfte sich durch das Blut und den Staub und darum, bei Bewußtsein zu bleiben.
»Oh, es tut mir leid. Geht es Euch nicht gut?« Er schlug sie leicht auf eine Wange und dann auf die andere. »Da! Ist das besser?« Er lachte. »Wo war ich stehengeblieben? O ja – abwarten. Und der heutige Tag brachte dann das Ende der Warterei, nicht wahr? Ihr habt mir den Rücken zugewandt, und ich habe Gloon herangepfiffen, damit er den Rock vernichtete. Ich habe Eure Aufmerksamkeit auf die Kriecher gerichtet, während ich den Flugreiter erledigt habe, und habe Euch dann niedergeschlagen. So schnell, so leicht. Aus und vorbei innerhalb von Sekunden.«
Er ließ sie los und stand auf. Wren sank zusammen, wollte aber nicht hinfallen und ihm die Befriedigung gönnen. Ihr eigener Zorn stieg in ihr hoch, kämpfte sich durch die Erschöpfung und den Schmerz und gab ihr genug Kraft, sich auf den Jungen zu konzentrieren.
Auf das Schattenwesen.
Tib Arne kicherte. »Im Moment keine Hoffnung für Euch, nicht wahr, Königin der Elfen? Nicht die geringste. Sie werden nach Euch suchen, aber sie werden Euch nicht finden. Euch nicht, den Flugreiter nicht, den Rock nicht. Ihr werdet alle einfach verschwunden sein.« Er lächelte. »Wollt Ihr wissen, wo? Natürlich wollt Ihr das. Für die anderen beiden ist es egal, aber für Euch...«
Er stemmte die Hände in die Hüften und neigte den Kopf. Seine nachlässige Haltung wurde von der Härte in seinen Augen und der Bosheit in seiner Stimme widerlegt. »Ihr werdet in die Südwache und zu Felsen-Dall gehen – hiermit!«
Er griff in seine Tasche und zog den Lederbeutel mit den Elfensteinen daraus hervor. Ihr Herz stockte. Die Elfensteine, ihre einzige Waffe gegen die Schattenwesen.
»Wir wissen von ihnen, seit Ihr am Wing Hove Euren Bruder getötet habt. Solche Macht – aber sie gehört nicht mehr Euch. Sie gehört jetzt dem Ersten Sucher. Und Ihr werdet ihm ebenfalls gehören, Mylady. Bis er mit Euch fertig ist. Und ich werde darum bitten, daß Ihr mir dann zurückgegeben werdet!«
Er schob den Beutel wieder in seine Tasche. »Ihr hättet die Dinge belassen sollen, wie sie waren, Elfenkönigin. Es wäre für Euch besser gewesen, wenn Ihr das getan hättet. Ihr hättet Euch daran erinnern sollen, daß wir alle gleichen Ursprungs sind – die Elfen sind aus der alten Welt gekommen, in der wir die Könige waren. Ihr hättet darum bitten sollen, eine von uns sein zu dürfen. Eure Magie hätte das ermöglicht. Schattenwesen sind das, was den Elfen zu werden bestimmt ist. Einige von uns wissen das. Einige von uns lauschen auf das Flüstern der Erde!«
Wren fragte sich, wovon er redete. Aber ihr Denken war wirr und getrübt.
Er wandte sich ab, beobachtete eine Zeitlang, wie Gloon fraß, und pfiff den Kampfhaubenwürger dann herüber. Gloon kam widerwillig und trug dabei Teile von Grayl in seinem gebogenen Schnabel. Tib Arne tätschelte und besänftigte den großen Vogel, redete leise mit ihm, lachte und spaßte. Gloon hörte aufmerksam zu, den Blick auf den Jungen gerichtet, den Kopf gehorsam geneigt. Wren blieb, wo sie war, und versuchte darüber nachzudenken, was sie tun konnte, um sich selbst zu helfen.
Dann kam Tib zu ihr, hob sie leicht hoch, schwang sie wie einen Sack Getreide über Gloons schiefergrauen Rücken und band sie dort fest. Der Junge ging zu Erring Rift zurück und warf den Körper des Flugreiters über die Klippe in das Dickicht darunter. Auf Tib Arnes Befehl versenkte Gloon seinen blutbefleckten gelben Schnabel in Grayl, zog den unglückseligen Rock zum Rand und ließ ihn dann ebenfalls hinabfallen. Wren schloß die Augen vor dem, was sie empfand. Tib Arne hatte recht. Sie war unglaublich dumm gewesen.
Der Junge kam dann zu ihr zurück und zog sich auf Gloon hinauf.
»Ihr seht, die Magie erlaubt uns alles, Elfenkönigin«, zischte er über die Schulter hinweg, während er es sich bequem machte. »Gloon kann sich groß oder klein machen, ganz wie er will, in die Federn des Haubenwürgers gehüllt, aus der Schattenwesengestalt entsprungen, die er angenommen hatte, als er die Magie empfing. Und ich kann der Sohn sein, den Ihr niemals haben werdet. War ich ein guter Sohn, Mutter? War ich es?« Er lachte. »Ihr habt niemals Verdacht geschöpft, nicht wahr? Felsen-Dall sagte, Ihr würdet keinen Argwohn hegen. Er sagte, Ihr würdet mich mögen und mir vertrauen wollen, würdet jemanden brauchen, nachdem Ihr auf Morrowindl Euren großen Freund verloren habt.«
Wren spürte Bitterkeit in sich aufsteigen, die sich mit Scham und Verzweiflung vermischte. Tib Arne beobachtete sie einen Moment lang und lachte.
Und dann breitete Gloon die Schwingen aus, und sie flogen ostwärts über die Ebenen, eilten von den Westlandwäldern, den Kriechern, der Föderationsarmee und den Elfen fort. Sie beobachtete, wie alles allmählich im Sonnenuntergang und dann in den Schatten verschwand und die Nacht in dunstigem, grauen Licht herabstieg. Sie flogen in die Dunkelheit hinein, folgten der Linie des Mermidon nach Callahorn hinein, passierten Kern und Tyrsis und flogen durch das Grasland nach Süden.
Die Mitternacht kam, und sie stiegen zu einer dunklen Fläche hinab, auf der ein Wagen und Reiter warteten. Die Männer trugen schwarze Umhänge und das Wolfskopfemblem der Sucher. Es waren acht, alle warteten dunkel und schweigsam in ihren Gewändern. Geister in der Stille der Nacht. Sie wirkten, als hätten sie Tib Arne und Gloon erwartet. Tib gab einem von ihnen den Beutel mit den Elfensteinen, und zwei andere hoben sie von Gloon herab und brachten sie in den Wagen. Es wurde nichts gesprochen. Wren wandte sich um und versuchte etwas zu sehen, aber das Segeltuch war bereits festgezurrt und gesichert worden.
Sie lag in der Dunkelheit und Stille und hörte das Geräusch von Gloons Schwingen, als er sich wieder in die Luft erhob. Dann machte der Wagen einen Satz und begann vorwärts zu rollen. Räder quietschten, und Pferdehufe trappelten in stetigem Rhythmus durch die Nacht.
Sie war auf dem Weg zur Südwache und zu Felsen-Dall, wie sie wußte, und sie fühlte sich, als habe sich ein großes Loch in der Erde geöffnet, um sie zu verschlingen.
27
Die Dämmerung war fast hereingebrochen, als Morgan Leah den Wagen und die Reiter aus dem Grasland im Westen herankommen sah. Sie wurden langsamer, als sie den Aufstieg zur Südwache beginnen mußten. Er stand auf der Klippe im Süden, wo seit mittlerweile drei Tagen sein Wachposten war, und schaute über das erwachende Land hinweg. Die Sterne und der Mond verblaßten in einem wolkenlosen Nachthimmel, und die Hügel waren dicht mit Nebel bedeckt, der sich an Senken und Täler anklammerte. Die Erde war ein Behältnis für die Vordämmerungsschatten, die mit dem Grau der vergehenden Nacht verschmolzen und gänzlich aufgesogen werden würden, wenn der Morgen kam.
Anders natürlich der Wagen und die Reiter, Schatten mit Substanz, deren Bewegungen sich vor der Dunkelheit abzeichneten. Morgan beobachtete sie schweigend und regungslos, als könnte jegliches Geräusch oder jegliche Bewegung seinerseits sie dazu veranlassen, im Nebel zu verschwinden. Sie waren noch immer ein gutes Stück entfernt, fast verloren in der Dämmerung, und schimmerten vor der Nacht wie dunkle Geister.
Sie waren das erste Anzeichen von Leben, das er gesehen hatte, seit er seinen Wachposten bezogen hatte. Und wie er erkannte, waren sie diejenigen, auf die er gewartet hatte.
Drei Tage waren vergangen, und niemand war in die Südwache hineingegangen oder auch herausgekommen. Niemand war auch nur in die Nähe gelangt. Das Land war offenbar bar allen Lebens, bis auf eine Handvoll Vögel, die zielstrebig in Sicht kamen und wieder daraus verschwanden. Auf dem Mermidon und dem Regenbogensee waren Skiffs zu sehen gewesen, aber alle waren gen Süden gefahren, weit an der Zitadelle der Geächteten vorbei. Morgan hatte lange und sorgfältig nach Anzeichen von Leben in dem Obelisken Ausschau gehalten, aber es waren keine zu sehen gewesen. Er hatte zeitweise geschlafen und war einen guten Teil der Tage und Nächte wach geblieben, um die Chance, daß jemand an ihm vorbeischlüpfte, gering zu halten. Er hatte beobachtet und gewartet, und nichts war geschehen.