Aber jetzt waren da ein Wagen und Reiter, und er war sich bereits sicher, daß sie zur Südwache wollten.
Er betrachtete sie näher und wußte dann auch, daß sie Sucher waren. Er konnte es an den schwarzen Umhängen und Kapuzen, an der Art, wie sie sich hielten und an der dunklen Verschwiegenheit ihres Herannahens erkennen. Sie kamen heimlich und im Schutz der Nacht, und sie wollten, daß nicht bekannt würde, was auch immer sie vorhatten. Es waren sechs Reiter, vier vor dem Wagen und zwei dahinter, und es waren mindestens zwei Fahrer dabei. In der seltsamen Stille der vergehenden Nacht waren sie ein Flüstern über dem kargen Land, krochen in den Nebel und die Schatten hinein und wieder heraus und zogen langsam dem kommenden Licht entgegen.
Er atmete tief ein. Sie waren diejenigen, so wiederholte er für sich, auf die er gewartet hatte. Er wußte nicht, warum er das spürte. Er verstand ihren Zweck nicht und konnte ihre Absicht nicht erkennen. Sie hatten vielleicht Par Ohmsford in dem Wagen bei sich. Vielleicht aber auch nicht. Es war nicht wichtig. Etwas in ihm flüsterte ihm zu, daß er sie nicht vorbeilassen sollte. Es sprach mit einer so deutlichen und sicheren Stimme, daß er sie nicht ignorieren konnte.
Darauf hast du gewartet. Unternimm etwas.
Es war fünf Tage her, seit sich Damson Rhee und Matty Roh auf die Suche nach Par begeben hatten und dem schimmernden Skree in der Hoffnung gefolgt waren, daß es sie zu dem Talbewohner führen könnte. Das Unwetter hatte alle früheren Spuren ausgelöscht, so daß das Skree alles war, was ihnen bei der Suche helfen würde. Morgan war an der Südwache geblieben, um auf ihre Rückkehr zu warten. Aber sie waren noch nicht zurückgekehrt, und es gab keinerlei Hinweis darauf, daß sie bald kommen würden. Es war Morgan überlassen geblieben, herauszufinden, ob Par ein Gefangener der Schattenwesen war, eine Aufgabe, die, mangels einer Gelegenheit, in die Südwache hineingelangen und sich umsehen zu können, eigentlich unmöglich erschien.
Aber jetzt...
Er atmete tief ein. Jetzt würde es anders sein.
Aber er mußte sich schnell entscheiden, was er tun wollte. Er mußte sofort handeln.
Er verfolgte bereits den Weg des Wagens, während dieser sich durch die neblige Hügellandschaft arbeitete. Er konnte ihn abfangen, wenn er wollte. Er konnte ihn erreichen, bevor er an der Südwache ankam, ihm den Weg abschneiden, wenn er noch mehrere Meilen entfernt war. Mit den Augen folgte er der Wagenspur, in der er bleiben mußte, wenn er die Zitadelle erreichen wollte. Es war ein Pfad, den andere Wagen vor ihm ausgefahren hatten. Er war nah genug, beschloß er. Er konnte ihn aufhalten.
Wenn er wollte.
Einer gegen acht, und jene acht waren Sucher und wahrscheinlich auch Schattenwesen. Er biß die Zähne zusammen und lächelte dann höhnisch. Er sollte es lieber sicherstellen.
Im Osten begannen die ersten schwachen Schimmer silbrigen Lichts hinter dem bewaldeten Horizont hervorzuspähen und sandten leuchtende Spinnweben über die flache dunkle Oberfläche des Regenbogensees. Die Stille vertiefte sich, und eine erwartungsvolle Ruhe trat ein: wartend, abwartend.
Morgan stand regungslos auf der Klippe, schaute über die Hügel hinweg zu dem Wagen und den Reitern und merkte, daß er über das Hier und Jetzt hinweg in die Vergangenheit schaute. Er sah sich selbst erneut in Leah, in dem Hochland, in dem seine Familie jahrhundertelang gelebt hatte, und rief sich in Erinnerung, wie sein Leben noch vor so kurzer Zeit gewesen war. Er erinnerte sich daran, wie er es Matty beschrieben hatte. Er hatte seine Zeit damit verbracht, den Föderationsoffizieren, die in seinem einstigen Familienwohnsitz einquartiert worden waren, das Leben schwerzumachen, und war damit zufrieden gewesen, lästige Verwirrung zu stiften, zufrieden damit, Unglück und Unzufriedenheit zu verursachen. Von damals an hatte er einen langen Weg hinter sich gebracht, nach Norden zum Hadeshorn und dem Schatten Allanons, über Tyrsis und die Grube hinaus zu den Drachenzähnen und dem Jut, zu Padishar Creel und den Geächteten und noch weiter nach Eldwist und zum Steinkönig, zum Schwarzen Elfenstein und dem Maw Grint. Er hatte die Schattenwesen und ihre Diener bekämpft und überlebt, was niemand hätte überleben sollen. Er hatte ein Leben hinter sich gelassen und war für immer verwandelt in einem anderen aufgetaucht. Er würde niemals wieder derselbe sein. Aber das wollte er auch nicht. Eine Lebensspanne war seit seiner Abreise aus dem Hochland vergangen, und seine Erfahrungen hatten ihn auf eine Weise gestärkt, wie er es sich einst nur in seinen Träumen hatte vorstellen können.
Seine Sicht klarte auf, die Vergangenheit verschwand wieder in die Erinnerung, und die Gegenwart drängte als stetige und sichere Gewißheit auf das, was erforderlich war. Er schaute zu dem Wagen und den Reitern hinaus und lauschte auf das Flüstern in seinem Geist. Er wußte, was er tun mußte.
Als er dann den Entschluß gefaßt hatte, handelte er schnell. Er ließ alles außer dem Schwert von Leah zurück. Von seinem Gepäck und dem schweren Umhang befreit, das Schwert sicher über den Rücken gebunden, glitt er durch die Bäume den nördlichen Hang der Klippe hinab, wobei er sein Ziel im Auge behielt. Er erreichte die darunterliegenden Hügel und durcheilte sie, strebte nordwärts auf die Engpässe zu, durch die der Wagen und die Reiter gelangen mußten, um die Südwache zu erreichen, dachte bei sich, daß er seine Meinung noch immer ändern könnte, wenn er erst einmal dort wäre und es dann falsch zu sein schien, dachte ebenfalls, daß er einen Plan brauchte, wenn er eine Chance haben wollte, einen Kampf gegen so viele zu gewinnen. Der Boden war hart und fühlte sich unter seinen Füßen hohl an, aber das Gras war feucht vom Morgentau und machte ein nasses, klatschendes Geräusch, als er hindurchging. Er roch die Erde und die Bäume in der windstillen Luft. Ihre Gerüche waren dicht und beißend. Der Nebel verdichtete sich, während er vorwärts schritt, streckte sich aus, um ihn in einem Moment zu umhüllen und im nächsten Moment wieder freizulassen. Er sagte sich, daß er schnell sein mußte – so schnell wie ein Gedanke und so sicher wie das Schicksal. Er würde die meisten von ihnen töten müssen, bevor sie wußten, daß er da war. Er würde noch dunkler sein müssen als sie. Er würde tödlicher sein müssen.
Von einer Senke wechselte er in einen Hain schwarzer Walnußbäume und Kirschbäume über, deren Zweige sich schwer vom Tau zu Boden neigten, und er schaute über die Hügel hinweg und lauschte. Er konnte den Wagen hören, obwohl sein Quietschen und Ächzen durch den Nebel gedämpft wurde. Er war ihnen ein gutes Stück voraus, in der Nähe der Stelle, wo er sie abfangen wollte, und die Finsternis der Nacht hielt der einsetzenden Dämmerung stand. Er schaute ostwärts und sah, daß die Sonne noch immer in den Bäumen verborgen war und ihr Licht nicht mehr war als ein schwaches Hellerwerden vor dem Himmel. Es blieb ihm genug Zeit zum Handeln, bevor der Sonnenaufgang ihn verraten würde. Er würde seine Chance bekommen.
Er ging erneut weiter, hielt sich in Deckung, wo immer er konnte, und blieb in seinem Vorübergehen lautlos. Er hatte jahrelang im Hochland gejagt, bevor er in den Norden gekommen war, hatte sich vor der Dämmerung erhoben, um mit seinem Bogen loszuziehen. Er war in einer Welt, in der er ein Eindringling war, allein gewesen und hatte gelernt, mit den Tieren, die er jagte, zu einer Einheit zu werden. Manchmal schoß er sie, um Nahrung zu haben, häufiger jedoch schlich er sich nur an sie heran. Er brauchte sie nicht zu töten, um ihre Eigenarten zu erfahren und ihre Geheimnisse zu entdecken. Er wurde gut darin. Er war jetzt gut. Aber die Schattenwesen waren auch Jäger. Sie konnten besser als er spüren, was dort draußen war. Daran mußte er denken. Er würde vorsichtig sein müssen.
Denn wenn sie ihn zuerst entdeckten...
Er atmete tief durch den Mund ein und beruhigte den Schlag seines Herzens, während er weiterging. Wie sah sein Plan aus? Was beabsichtigte er eigentlich? Sie aufhalten, sie töten, sehen, was in ihrem Wagen war? Was war, wenn er nichts in dem Wagen fand? War das wichtig? Wieviel würde er verlieren, wenn dies alles umsonst war?