Und genau das steht da am Himmel geschrieben, dachte sie, der letzte Seufzer eines alten Mannes.
Sie wandte sich Rowley zu. »Wie. Kommen. Wir. Da. Rein«, sagte sie betont deutlich, »und denkt bitte daran, dass da drin eine Tote liegt.«
Er deutete mit dem Daumen auf etwas. »Wir läuten die Glocke.«
Adelia war vom Turm so fasziniert gewesen, dass sie das Holzgerüst gar nicht bemerkt hatte, das nur wenige Schritte entfernt am Hang neben einer Pferdetränke stand.
Wie alles andere in Wormhold war auch die Glocke ungewöhnlich: Wie sie da an dem acht Fuß hohen, trapezförmigen Gerüst hing, das fest in den Boden eingelassen war, nahm sie sich so wuchtig aus wie die einer Kathedrale.
»Los, Jacques«, sagte der Bischof. »Bim, bam.«
Der Bote stieg ab, ging zu der Glocke und schwang das Seil, das vom Klöppel hing.
Adelia klammerte sich an ihrer Stute fest, die beim ersten Glockenschlag scheute, und Walt griff rasch nach den Zügeln von Jacques’ Pferd, damit es nicht durchging. Vögel stoben aus den Bäumen, und ein Krähenschwarm flatterte krächzend auf, als der laute Bariton der Glocke über das Tal schallte. Selbst Wächter, der gleichmütigste aller Köter, hob den Kopf und bellte.
Das Echo hing eine Weile in der Luft, dann trat wieder Stille ein.
Rowley fluchte. »Noch mal«, sagte er. »Wo steckt Dakers? Ist die taub?«
»Muss wohl«, sagte Jacques. »Der Lärm hätte Tote aufgeweckt.« Er merkte, was er da gesagt hatte. »Ich bitte um Vergebung, Mylord.«
Wieder ertönte die große Glocke und schien die Erde erzittern zu lassen. Wieder geschah nichts.
»Ich glaub, ich hab da wen gesehen«, sagte Walt und blinzelte gegen die Sonne.
Adelia auch – einen schwarzen Fleck auf dem Laufgang des Turmes. Aber jetzt war er verschwunden.
»Dem Bischof würde sie aufmachen. Ich hätte meine Bischofsrobe anziehen sollen«, sagte Rowley. Er trug Jagdkleidung. »Nun denn, macht nichts. Wir finden schon den Weg – ich habe ihn noch genau in Erinnerung.«
Er trieb sein Pferd an und galoppierte mit wehendem Mantel den Hang hinunter ins Tal. Die anderen folgten ihm weniger waghalsig.
Der Eingang zum Labyrinth bot den Männern erneut Gelegenheit zu anzüglichen Bemerkungen. Er bestand nicht aus einem Bogen, sondern aus zwei steinernen Ellipsen, die sich oben und unten trafen und eine zehn Fuß breite, spaltförmige Öffnung bildeten, deren Form an eine weibliche Vulva erinnerte. Dieser Eindruck wurde durch die Verzierungen im Stein drum herum noch verstärkt: Schlangen, die sich in vielerlei Früchte hinein- und wieder hinauswanden.
Die Pferde sträubten sich, das Labyrinth zu betreten, obwohl die Öffnung eigentlich groß genug war. Sie folgten erst, nachdem ihnen die Augen verbunden worden waren, was nach Adelias Dafürhalten von mehr Anstand zeugte als die Bemerkungen der Männer, die an ihren Zügeln zerrten.
Drinnen war es unangenehm. Der Weg vor ihnen war zwar recht breit, aber mit Schlehdorn überwuchert, der das Sonnenlicht fernhielt und sie mit dem diffusen grauen Licht eines Tunnels und dem Geruch nach totem Laub umhüllte.
Das Dach aus Ästen war zu niedrig, als dass sie wieder hätten aufsitzen können. Sie würden ihre Pferde durchs Labyrinth führen müssen.
»Los jetzt.« Rowley drängte zur Eile und zog sein Pferd im Laufschritt am Zügel hinter sich her.
Nach ein paar Biegungen konnten sie kein Vogelgezwitscher mehr hören. Dann teilte sich der Weg, und sie standen vor zwei Gängen, beide so breit wie der, durch den sie gekommen waren. Einer führte nach links, der andere nach rechts.
»Da lang«, sagte der Bischof. »Wir gehen nach Nordwesten auf den Turm zu. Merkt euch einfach die Richtung.«
Adelia beschlichen erste Zweifel. Sie war irritiert, weil sie sich hatten entscheiden müssen. »Mylord, ich glaube nicht, dass …«
Aber er war bereits weitergegangen.
Nun, er war schon einmal hier gewesen, vielleicht erinnerte er sich ja wirklich noch. Adelia verlangsamte ihre Schritte, ihr Hund und Jacques folgten ihr auf dem Fuße. Sie hörte Walt, der das Schlusslicht bildete, vor sich hin grummeln. »Wormhold. Passender Name für diese gewundene Scheiße.«
Wyrmhold. Natürlich. Wyrm. Auf den Märkten machten die Geschichtenerzähler ihren Zuhörern Angst und Bange mit Geschichten über die große Drachenschlange, die sich durch die angelsächsischen Legenden wand, genau wie sich diese Gänge durch das Labyrinth schlängelten.
Sehnsüchtig dachte Adelia daran, dass Gylthas Ulf diese Erzählungen liebte und gern den Helden nachspielte – wie hieß er noch? –, der das Ungeheuer erschlug.
Ich vermisse Ulf. Ich vermisse Allie. Ich will nicht in Wyrms Höhle sein.
Ulf hatte ihr die Höhle genüsslich beschrieben. »Furchtbar war sie, tief in der Erde, und sie stank nach dem Blut toter Männer.«
Na, zumindest blieb ihnen der Gestank erspart. Aber der Erdgeruch war da, ebenso wie das bedrückende Gefühl, in einem unterirdischen Gefängnis ohne Ausgang zu sein. Genau das muss der Dädalus bezweckt haben, der diese Schweinerei ausgeheckt hatte, dachte sie. Das erklärte auch den Schlehdorn. Wäre der nicht gewesen, hätten sie eine Mauer hochklettern, sich orientieren und frische Luft atmen können. Aber Schlehdorn hatte Dornen, die Fleisch zerfetzten, wie Wyrm.
Sie hatte keine Angst – sie wusste, wie sie wieder rauskommen würde –, aber sie merkte, dass die Männer jetzt nicht mehr lachten.
An der nächsten Biegung führte der Gang nach Süden und teilte sich in drei weitere Tunnel. Rowley entschied sich, noch immer ohne zu zögern, für den rechten.
Nach der nächsten Biegung teilte sich der Gang erneut. Adelia hörte Rowley fluchen. Sie reckte den Hals, um an seinem Pferd vorbeizusehen und den Grund herauszufinden.
Es war eine Sackgasse. Rowley hatte sein Schwert gezückt und stach es in eine Hecke, die den Weg versperrte. Das Klirren von Metall auf Stein verriet, dass hinter dem Blattwerk eine Mauer war. »Gottverdammter Mist. Wir müssen zurück.« Er hob die Stimme. »Zurück, Walt.«
Der Gang war nicht breit genug, um die Pferde zu wenden, ohne dass sie sich Nüstern und Hinterhand zerkratzten, was sie nicht nur verletzt, sondern auch in Panik versetzt hätte.
Adelias Stute wollte weder rückwärts- noch vorwärtsgehen. Das Tier war vernünftig und blieb einfach stocksteif stehen.
Rowley zwängte sich an seinem Pferd vorbei, packte dann das Zaumzeug von Adelias Stute mit beiden Händen und schob, bis er das Tier überzeugt hatte, rückwärts bis zum Eingang der Sackgasse zu gehen, wo sie sich neu formieren konnten.
»Ich habe doch gesagt, wir müssen uns nordwestlich halten«, sagte er zu Adelia, als hätte sie die Route vorgegeben.
»Wo ist Nordwesten?«
Aber er war schon gereizt weitermarschiert, und sie musste ihre widerspenstige Stute im Trab hinter sich herzerren, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Ein neuer Gang. Und wieder einer. Es war, als würden sie in immer dichter werdende graue Wolle eingepackt. Inzwischen hatte sie jede Orientierung verloren. Genau wie Rowley, so argwöhnte sie.
Im nächsten Gang war Rowley verschwunden. Sie kam zu einer Gabelung und konnte nicht sehen, welchen Weg er genommen hatte. Sie sah sich nach Jacques um. »Wo ist er hin?« Und an den Hund gerichtet: »Wo ist er, Wächter? Wo ist er hin?«
Das Gesicht des Boten war grau, was nicht nur an dem spärlichen Licht lag, das durchs Gehölz drang. Er sah auch älter aus. »Kommen wir hier wieder raus, Mistress?«
Sie sagte beruhigend: »Aber ja doch.« Sie wusste, wie er sich fühlte. Das Dornendach über ihnen machte sie zu Gefangenen. Sie waren Maulwürfe ohne die Fähigkeit von Maulwürfen, an die Oberfläche zu gelangen.
Rowleys Stimme ertönte gedämpft. »Wo zum Teufel seid ihr?« Es war unmöglich, zu hören, wo er war. Die Gänge verschluckten und verfremdeten den Klang.