Walt rief gleichmütig nach hinten. »Schätze, da lacht wer über uns, Master.«
»Allmächtiger.«
Noch immer schmunzelnd, warf Adelia einen Blick über die Schulter und merkte, dass Walt sie beobachtete. Sein Blick war amüsiert, freundlicher als zuvor, und er ruhte auf der Reitpeitsche, die sie noch immer an der linken Hecke entlangzog. Er zwinkerte ihr zu.
Er weiß es, dachte sie. Sie zwinkerte zurück.
Erfreut über diesen neuen Verbündeten, beschleunigte sie ihren Schritt, denn als sie sich umdrehte, musste sie blinzeln, um Walts Miene erkennen zu können.
Sein Gesicht war undeutlich, als sähe sie es durch einen Schleier hindurch.
Das Licht ließ nach.
Bestimmt war es draußen noch immer Nachmittag, aber die niedrige Wintersonne tauchte diese Seite des Labyrinths, welche Seite auch immer das war, in Schatten. Sie wollte sich gar nicht erst ausmalen, wie es nach Einbruch der Dunkelheit hier drin wäre.
Es war auch so schon beängstigend genug. Sie hielten sich bei jeder Biegung und Kreuzung an die linke Hecke, die sie immer wieder in Sackgassen führte, so dass sie es allmählich satt hatten, zunehmend unruhige Pferde wieder zurückzudrängen. Jedes Mal hörte sie Rowley poltern: »Weiß die Frau überhaupt, was sie da tut?«
Zweifel beschlichen Adelia. Eine quälende Frage ging ihr nicht aus dem Kopf. Sind die Hecken durchgängig? Falls es eine Lücke gab, falls ein Teil des Irrgartens vom Rest getrennt war, dann könnten sie hier herumirren, bis sie erstickten.
Als die Gänge dunkler wurden, formten sich die Schatten vor ihr zu einem körperlosen Gesicht, das bösartig grinsend unsägliche Dinge sprach. Du kommst hier nicht raus. Ich habe die Eingänge verschlossen. Du bist gefangen. Du wirst dein Kind nie wiedersehen.
Bei dem Gedanken wurden ihre Hände schweißnass, so dass ihr die Reitgerte aus den Fingern glitt, und als sie danach fasste, stieß sie gegen die Hecke und löste eine kleine eiskalte Schneelawine aus, die ihr auf Kopf und Gesicht rutschte.
Sogleich war ihr gesunder Menschenverstand wieder hellwach. Hör auf, es gibt keine Zauberei. Sie verschloss die Augen vor der Fratze und die Ohren vor Rowleys Flüchen – auch die anderen hatten etwas von der Lawine abbekommen – und ging weiter.
Walt, Gott segne ihn, plapperte vor sich hin: »Ich staun die ganze Zeit, wie die das Dornengestrüpp in Form halten. Schätze, es wird zweimal im Jahr gestutzt. Da braucht man jede Menge Männer für, Mistress. So was kann sich nur ein König leisten.«
Im Grunde war es wirklich erstaunlich, und er hatte recht; für die Pflege des Irrgartens war gewiss eine kleine Armee erforderlich. »Nicht nur zum Stutzen, auch zum Fegen«, sagte sie. Es lag nämlich kein Schnittabfall auf den Wegen. »Sonst würde mein Hund sich noch einen Dorn in die Pfote treten.«
Walt betrachtete den Vierbeiner, der hinter Adelia hertrottete und den er jetzt schon einige Zeit auf engstem Raum erlebte. »Besondere Rasse, was? So einer is mir noch nie über den Weg gelaufen.« Und auf eine weitere Begegnung dieser Art war er, wie sein Schnuppern verriet, nicht unbedingt erpicht.
Sie zuckte die Achseln. »Ich hab mich dran gewöhnt. Die werden gerade wegen ihres Gestanks gezüchtet. Prior Geoffrey aus Cambridge hat mir den Vorgänger von dem hier geschenkt, als ich nach England kam, damit man meiner Spur folgen konnte, falls ich verlorengegangen wäre. Und dann hat er mir den hier geschenkt, nachdem der andere … gestorben war.«
Genauer gesagt, getötet und verstümmelt wurde, als sie den Mörder einiger Kinder aus Cambridge in eine Höhle verfolgt hatte, die noch tausendmal schlimmer war als der Irrgarten hier. Doch der Geruch, den der Hund hinterlassen hatte, war ihre Rettung gewesen, und danach bestanden sowohl der Prior als auch Rowley darauf, dass sie wieder so einen an ihrer Seite hatte.
Sie und Walt plauderten weiter, und ihre Stimmen verloren sich in dem Gestrüpp um sie herum. Walt verachtete sie nicht mehr, und er schien eine gute Meinung von Frauen zu haben. Er hatte Töchter, so erzählte er ihr, und eine tüchtige Frau, die ihren kleinen Hof allein bewirtschaftete, wenn er nicht da war. »Und ich bin oft nicht da, seit Bischof Rowley gekommen is. Der hat mich aus den vielen Reitknechten der Kathedrale ausgesucht, damit ich mit ihm reisen soll, ja, das hat er.«
»Und das war eine gute Wahl«, stellte Adelia aufrichtig fest.
»Kann schon sein. Andere halten nich so zu Seiner Lordschaft. Denen gefällt nich, dass er ein Freund von König Henry is, weil sie glauben, der hat den armen St. Thomas in Canterbury abmurksen lassen.«
»Ich verstehe«, sagte sie. Sie hatte es gewusst. Rowley hatte Feinde unter den Würdenträgern seiner eigenen Diözese, weil er vom König gegen deren Willen ernannt worden war.
Sie war sich nie sicher gewesen, ob Henry Plantagenet tatsächlich die Schuld daran trug, dass Thomas à Becket auf den Stufen seiner eigenen Kathedrale ermordet worden war, obwohl der König in seinem Zorn vom Ausland aus danach geschrien hatte. War Henry, als er lautstark den Tod des Erzbischofs herbeiwünschte, bewusst gewesen, dass einige seiner Ritter, die Becket aus ganz persönlichen Gründen tot sehen wollten, losgaloppieren und den Wunsch in die Tat umsetzen würden?
Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Aber ohne die Einmischung von König Henry hätten Beckets Nachfolger sie an den Pranger gestellt – was beinahe geschehen wäre.
Sie stand auf Henrys Seite. Für den zum Märtyrer gewordenen Erzbischof waren Kirche und Gott praktisch eins gewesen. Beide waren unfehlbar, und beider Gesetze mussten wie schon seit ewigen Zeiten fraglos und unverändert befolgt werden. Henry, der trotz all seiner Fehler doch der Menschlichere von beiden war, hatte Veränderungen gewollt, die nicht der Kirche, sondern seinem Volk zugute kämen. Becket hatte ihm bei jeder Gelegenheit Steine in den Weg gelegt und tat es noch heute aus dem Grab heraus.
»Ich und Oswald und Master Paton und der junge Jacques, wir haben unsere Arbeit noch nich so lange«, sagte Walt gerade. »Wir haben nix gegen Bischof Rowley, nich so wie die alte Garde, die ihm übelnimmt, dass er ein Mann des Königs is. Master Paton und Jacques haben am selben Tag angefangen, als er sein Amt angetreten hat.«
In Anbetracht der großen Kluft zwischen König und Märtyrer, die quer durch die Diözese von St. Albans verlief, hatte sich der neue Bischof also Diener ausgesucht, die ebenso unerfahren in ihren Funktionen waren wie er.
Gut so, Rowley. Walt und Jacques nach zu urteilen, hast du eine gute Auswahl getroffen.
Allerdings stellte sich heraus, dass der Bote weniger unerschütterlich war als der Reitknecht. »Sollen wir vielleicht um Hilfe rufen, Mylord?« Adelia hörte, wie er die Frage an Rowley richtete.
Dieses eine Mal war der Bischof freundlich zu ihm. »Dauert nicht mehr lange, mein Sohn. Wir sind fast draußen.«
Er konnte das nicht wissen, aber es stimmte tatsächlich. Adelia hatte soeben den Beweis dafür gesehen, obwohl sie fürchtete, dass der Bischof nicht sehr erfreut darüber sein würde.
Walt gab ein Brummen von sich. Er hatte dasselbe gesehen wie sie – vor ihnen im Gang lag ein Haufen Pferdeäpfel.
»Die hat der da fallen lassen, als wir reingekommen sind«, sagte Walt und deutete mit dem Kinn auf das Pferd, das Adelia führte. Es war sein eigenes gewesen, das letzte in der Reihe, als sie in den Irrgarten eindrangen. Sie würden bald alle vier wieder draußen sein – aber genau an der Stelle, wo sie angefangen hatten.
»Es war eine fünfzigprozentige Chance«, seufzte Adelia. »Mist.«
Die beiden Männer hinter ihnen hatten das Gespräch nicht gehört, und als sie den Pferdedung passierten, der inzwischen von den Hufen der vorderen zwei Pferde platt getrampelt worden war, maßen sie ihm keine Bedeutung bei.
Eine weitere Biegung im Gang. Licht. Eine Öffnung.
Adelia graute vor dem Wutanfall, der ganz sicher kommen würde, als sie ihr Pferd durch den spaltförmigen Ausgang aus dem Irrgarten hinausführte und von klarer, geruchlos kalter Luft umhüllt wurde. Die untergehende Sonne beschien die große Glocke an ihrem Trapezgerüst auf einem Hügel, den sie vor über zwei Stunden herabgeritten waren.