Doch als sie sich vorgebeugt hatte, um sie zu betrachten, hatte sie in das fast kindlich pausbäckige Gesicht einer Fettleibigen geblickt.
Das änderte die Sache. Sie wusste selbst nicht, warum, aber so war es.
»Wie lang ist sie schon tot?«, wollte Rowley wissen.
»Was?« Adelia war in Gedanken versunken und stellte der Leiche belanglose Fragen. Wieso hast du bei deinem Gewicht hier oben im Turm gelebt? Wie bist du die Treppe runtergekommen, um dich mit Rowley im Garten zu treffen? Und wie bist du wieder raufgekommen?
»Ich habe gefragt, wie lang sie schon tot ist.«
»Oh.« Höchste Zeit, sich zusammenzureißen und zu tun, weswegen sie mitgekommen war. »Lässt sich unmöglich genau sagen.«
»Waren es die Pilze?«
»Woher soll ich das wissen? Wahrscheinlich ja.«
»Könnt ihr sie strecken?«
Meine Güte, was für ein grobschlächtiger Mensch er doch war. »Sie wird sich schon von allein strecken«, sagte Adelia knapp. »Wir müssen dieses verdammte Zimmer nur warm bekommen.« Dann fragte sie: »Warum wollte Dakers wohl, dass man sie schreibend vorfindet?«
Doch der Bischof war schon draußen vor der Tür und brüllte zu Walt hinunter, er solle Kohlenbecken, Späne, Feuerholz, Kerzen heraufbringen, und schickte Jacques nach unten, damit er dem Reitknecht half. Als er daraufhin selbst die Treppe hinunter verschwand, um weiter nach der Haushälterin zu suchen, nahm er seine lebenssprühende Kraft mit und überließ den Raum der Stille der Toten.
Adelias Gedanken wanderten sehnsüchtig zu dem Mann, auf dessen ruhige Unterstützung und Zuversicht sie bei schwierigen Ermittlungen stets bauen konnte – denn dass diese hier schwierig werden würde, daran zweifelte sie nicht. Doch Mansur war auf der Barkasse, die Rosamunds Sarg den Fluss heraufbrachte, und selbst wenn er inzwischen die Anlegestelle erreicht hatte, die eine Viertelmeile entfernt lag, so hatte man ihn, Oswald und die anderen Männer doch angewiesen, dort zu bleiben, bis der Bote sie holen kam.
Was heute Nacht nicht mehr geschehen würde. Niemand würde sich heute Nacht noch einmal in den Irrgarten wagen.
Sie hatte nur eine Lichtquelle. Rowley hatte seine Kerze mitgenommen. Sie stellte ihre auf den Tisch, so dicht neben die Hand der Toten, wie es ging, ohne sie zu verbrennen – ein klitzekleiner Anfang, um die Leiche aufzutauen, was nicht nur seine Zeit dauern, sondern auch unappetitlich werden würde.
Adelia dachte an die toten Schweine, an denen sie Verwesung studiert hatte, und zwar auf einem Hof in den Bergen oberhalb von Salerno, den ihr Lehrer Gordinus eigens zu diesem Zweck dort unterhielt. Sie versuchte, sich vor allem an die gefrorenen Kadaver in dem Eishaus zu erinnern, das er tief in Felsgestein hatte schlagen lassen. Sie konzentrierte sich auf Gewicht, auf Zeitspannen, sie stellte sich die nadelfeinen Eiskristalle vor, die Muskeln und Gewebe hart werden ließen … und die Säfte, die entstanden, wenn sie schmolzen.
Die arme Rosamund. Sie würde den Peinlichkeiten des Verfalls ausgesetzt sein, wo doch alles in diesem Raum von einem Menschen kündete, der Eleganz liebte.
Die arme Dakers, die ihre Herrin zweifelsohne bis zum Wahnsinn geliebt hatte.
Die ihr auch eine Krone aufgesetzt hatte. Eine echte Krone, kein modisches Diadem, keinen Kranz, keinen Stirnreif, sondern ein altes Exemplar aus massivem Gold mit vier Spitzen, die in Form einer Lilie aus einem juwelenbesetzten Rand nach oben strebten – die Krone einer königlichen Gemahlin. Sie, so sagte Dakers damit, ist eine Königin.
Und doch hatte dieselbe Hand das schöne Haar so gebürstet, dass es jetzt offen über Schultern und Rücken der Toten hing wie bei einer Jungfrau.
Ach, nun fang schon an, mahnte Adelia sich. Sie war nicht hier, um sich von den unergründlichen Tiefen menschlicher Leidenschaft faszinieren zu lassen, sondern um herauszufinden, warum jemand den Tod dieser Frau gewollt hatte und wer dieser Jemand war.
Sie wünschte, von unten wären irgendwelche Laute zu hören gewesen, um die Totenstille des Zimmers zu unterbrechen. Vielleicht lag es ja so hoch, dass kein Geräusch bis hier heraufdrang.
Adelia richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Schreibtisch, eine gruselige Angelegenheit, weil das dunkle Fensterglas auf der gegenüberliegenden Seite wie die Versilberung eines Spiegels wirkte, so dass sie und die Leiche Seite an Seite darin reflektiert wurden.
Ein hübscher, auf Hochglanz polierter Tisch. Dicht neben der linken Hand der Toten stand eine Schale mit kandierten Pflaumen, als wollten ihre Finger gleich danach greifen.
Die Schale war schwarz und rot und mit Athleten bemalt, wie die uralte Vase, die ihr Ziehvater in Griechenland entdeckt hatte und die ihm so kostbar war, dass niemand außer ihm sie anfassen durfte. Rosamund bewahrte in ihrer Süßigkeiten auf.
Ein gläsernes Tintenfässchen, eingefasst in eine goldene Filigranarbeit. Ein eleganter lederner Behälter für die Schreibfedern und ein kleines Messer aus Elfenbein und Stahl, um sie anzuspitzen. Zwei Bögen hochwertiges Velin, beide engbeschrieben, lagen Seite an Seite, einer unter der rechten Hand. Ein fast leerer Sandstreuer, passend zum Tintenfass, ebenfalls aus Glas und mit Goldfiligran. Ein kleiner Brenner, um das Siegelwachs zum Schmelzen zu bringen, das in Form von zwei roten Stangen danebenlag, die eine kürzer als die andere.
Adelia suchte nach einem Siegel und fand keines, aber an einem Finger der Toten steckte ein großer Goldring. Sie hob die Kerze näher an den Ring. Die runde Oberseite war eine Prägeform, die, wenn man sie in weiches Wachs drückte, die beiden Buchstaben R.R. zurücklassen würde.
Rosamund Regina?
Hmm.
Dakers hatte zeigen wollen, dass Rosamund lesen und schreiben konnte – keine geringe Leistung in England, selbst bei hochgeborenen Frauen –, warum sonst hätte sie sie in dieser Haltung hergerichtet? Und sie hatte offensichtlich viel geschrieben. Die Gerätschaften auf dem Tisch waren häufig benutzt worden.
War Dakers einfach nur stolz darauf gewesen, dass ihre Herrin schreiben konnte? Oder gibt es da noch eine andere Botschaft, die mir entgeht?, fragte sich Adelia.
Sie betrachtete die beiden Bögen Velin genauer. Sie hob denjenigen auf, der direkt vor der Leiche lag, und stellte fest, dass er in diesem Licht nicht zu entziffern war. Rosamund mochte ja des Schreibens mächtig gewesen sein, aber sie hatte keine schöne Schrift gehabt. Das hier war nur ein verkrampftes Gekritzel.
Sie fragte sich, wo zum Donnerwetter Rowley mit den Kerzen blieb. Der Bischof ließ sich Zeit mit seiner Rückkehr. Adelia registrierte diesen Umstand nur ganz kurz und stellte fest, dass sie, wenn sie den Bogen mit einer Hand über den Kopf hob, die Kerze mit der anderen gefährlich nah darunterhielt und dann die Augen zusammenkniff, so gerade eine Anrede lesen konnte. Was sie da in der Hand hielt, war ein Brief.
»An Lady Eleanor, Herzogin von Aquitanien und vermeintliche Königin von England, es grüßt Euch die wahre und einzige Königin dieses Landes, Rosamund, die Schöne.«
Adelia fiel der Unterkiefer herunter. Und beinahe auch der Brief. Das war keine Majestätsbeleidigung, das war glatter, offensiver Hochverrat. Es war eine Aufforderung zum Kampf.
Es war dumm.
»Warst du irre?« Das Flüstern wurde von der Stille des Raumes verschluckt.
Rosamund stellte Eleanors Macht in Frage, und sie musste gewusst haben, dass die Königin gezwungen war, darauf zu reagieren, oder für alle Zeit gedemütigt gewesen wäre.
»Du hast mit hohem Einsatz gespielt«, flüsterte Adelia. Der Wormhold Tower mochte ja schwierig zu erobern sein, aber er war nicht uneinnehmbar. Einer Streitmacht, wie sie von einer zornbebenden Königin entsandt worden wäre, hätte er nicht standgehalten.