Rosamunds Tod raunte: Ha, doch stattdessen hat die Königin ein altes Weib mit vergifteten Pilzen geschickt?
Nichts dergleichen, dachte Adelia bei sich, denn Eleanor hatte den Brief nicht erhalten. Höchstwahrscheinlich hatte Rosamund gar nicht vorgehabt, ihn abzuschicken. Allein in diesem schrecklichen Turm, hatte sie sich lediglich damit die Zeit vertrieben, irgendwelche Wunschvorstellungen von sich als Königin auf Velin zu kritzeln.
Was hatte sie sonst noch geschrieben?
Adelia legte den Brief zurück auf den Tisch und nahm das andere Dokument zur Hand. Im Halbdunkel erkannte sie eine weitere Anrede. Also noch ein Brief. Wieder musste sie ihn hochhalten, damit das Kerzenlicht von unten darauf schien. Dieser war leichter zu lesen:
»An Lady Eleanor, Herzogin von Aquitanien und vermeintliche Königin von England, es grüßt Euch die wahre und einzige Königin dieses Landes, Rosamund, die Schöne.«
Exakt derselbe Wortlaut. Und die Zeilen waren leserlicher, weil jemand anders sie geschrieben hatte. Diese Schrift sah ganz anders aus als Rosamunds Gekritzel. Es war die gut lesbare, leicht geneigte Schönschrift eines Gelehrten.
Rosamund hatte ihren Brief von diesem abgeschrieben.
Wächter gab ein leises Knurren von sich, doch Adelia, die von dem Rätsel völlig gebannt war, achtete nicht darauf.
Es ist hier. Ich bin ganz nah dran.
Während sie nachdachte, wedelte sie sachte mit dem Bogen, doch dann sah sie im Spiegel des Fensters, dass sie Rosamund versehentlich damit auf den Kopf klopfte.
Und hörte auf, ebenso erstarrt wie die Leiche. Wächter hatte sie warnen wollen, dass noch jemand das Turmzimmer betreten hatte, sie hatte nicht darauf geachtet.
Drei Gesichter spiegelten sich im Glas, zwei davon gekrönt. »Ich bin entzückt, Eure Bekanntschaft zu machen, meine Liebe«, sagte eines davon – und es meinte nicht Adelia.
Die einen Moment lang stehenblieb, wo sie war, unverwandt geradeaus starrte, versuchte, ihren fröstelnden Aberglauben niederzukämpfen und all ihren gesunden Menschenverstand gegen Hexerei und Geisterbeschwörung aufzubieten.
Dann fuhr sie herum und verneigte sich. Eine wahre Königin war unverkennbar.
Eleanor nahm keine Notiz von ihr. Sie ging zu einer Seite des Tisches, wobei sie das Zimmer mit einem Duft erfüllte, der Rosamunds Rosen mit etwas Schwererem, Exotischerem überdeckte. Zwei weiße, langfingrige Hände wurden auf das Holz gelegt, als sie sich vorbeugte, um in das Gesicht der Toten zu blicken. »Ts-ts. Ihr habt Euch gehenlassen.« Ein beringter Zeigefinger stupste die griechische Schale an. »Ich vermute, zu viele Leckereien und zu wenig Salat?«
Ihre Stimme klang liebreizend durch den Raum. »Wusstet Ihr, dass die arme Rosamund fett war, Lord Montignard? Wieso hat mir das niemand gesagt?«
»Das sind Kühe doch meistens, Lady.« Eine Männerstimme, die von einer Gestalt kam, die in der offenen Tür stand und eine Laterne hielt. Dahinter war undeutlich eine größere Gestalt im Kettenhemd zu sehen.
»Wie unhöflich«, sagte Eleanor entschuldigend zu der Leiche auf dem Stuhl. »Männer sind doch wirklich ungerecht, nicht wahr? Und gewiss hattet Ihr viele ausgleichende Vorzüge … Großzügigkeit im Gewähren Eurer Gunst, und so weiter.«
Die Grausamkeit lag nicht nur in den Worten, sondern auch in der enormen physischen Diskrepanz der Frauen. Neben der hohen Gestalt der Königin, die selbst in ihrem Pelzumhang schlank erschien, sah Rosamund schwerfällig aus, und das offen herabwallende Haar wirkte bei einer Frau ihres Alters lächerlich. Im Vergleich zu der erlesen gearbeiteten weißgoldenen Krone, die Eleanor trug, wirkte Rosamunds wuchtig und überladen.
Die Königin wandte sich dem Dokument zu. »Ach, meine Liebe, schon wieder ein Brief an mich? Und Gott hat Euch zu Eis erstarren lassen, als Ihr gerade dabei wart, ihn zu verfassen?«
Adelia öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Sie und die Männer an der Tür waren lediglich Publikum in dem Spiel, das Eleanor von Aquitanien mit einer Toten spielte.
»Es tut mir leid, dass ich zu dem Zeitpunkt nicht hier war«, sagte die Königin jetzt. »Als ich von Eurer Erkrankung erfuhr, war ich gerade erst aus Frankreich gekommen und musste mich um Wichtigeres kümmern, als an Euer Sterbebett zu eilen.« Sie schien zu seufzen. »Wie immer: Erst die Pflicht, dann das Vergnügen.«
Sie hob den Brief auf und hielt ihn in der ausgestreckten Hand. In dem Licht konnte sie ihn nicht lesen, aber das war auch nicht nötig. »Ist der auch so wie die anderen? Die wahre Königin dieses Landes grüßt die vermeintliche …? Ein wenig einfallslos, findet Ihr nicht? Nicht wert, aufbewahrt zu werden!«
Sie zerknüllte den Bogen, warf ihn zu Boden und trat ihn mit der Drehung eines feinen Stiefels auf den Steinen platt.
Ganz, ganz langsam neigte Adelia sich seitlich nach unten. Sie schob das Dokument, das sie in der Hand hielt, oben in ihren rechten Stiefel und merkte, wie Wächter ihr dabei die Hand leckte. Er hielt sich in ihrer Nähe.
Sie schaute zu dem Spiegelbild im Fenster, um zu sehen, ob der Mann an der Tür die Bewegung bemerkt hatte. Nein, seine Aufmerksamkeit galt ausschließlich Eleanor, und Eleanors galt Rosamunds Leichnam.
Die Königin legte eine Hand hinters Ohr, als lauschte sie einer Erwiderung. »Das macht Euch nichts? Wie großzügig von Euch, aber man sagt Euch ja nach, dass Ihr Eure Gunst stets großzügig gewährt habt. Ach übrigens, verzeiht, aber der Klunker da gehört mir …« Eleanor hatte der Toten die Krone vom Kopf genommen. »Sie wurde vor zweihundert Jahren für die Ehefrauen der Grafen von Anjou angefertigt, und wie kann er es wagen, sie einer stinkenden, fetten Hure wie dir zu geben …«
Dahin war es mit ihrer Selbstbeherrschung. Mit einem Aufschrei schleuderte Eleanor die Krone in das Fenster vor ihnen beiden, als wollte sie damit die Scheibe zerschmettern. Wächter kläffte.
Es war Eleanors Rettung, dass die Krone mit der gefütterten Unterseite des Randes gegen das Fenster schlug. Wäre die Scheibe zersprungen, dann hätte Adelia – die benommen das bebende Spiegelbild weiter betrachtete, nachdem das Wurfgeschoss abgeprallt war – nicht die Spiegelung des Todes gesehen, der von hinten angeschlichen kam. Und auch nicht das Messer in seiner Hand.
Ihr blieb keine Zeit mehr, sich umzudrehen. Er hatte Eleanor im Visier. Adelia warf sich zur Seite, und ihre linke Hand packte die Schulter des Todes.
Bei dem Versuch, das Messer abzuwehren, griff sie daneben, und die Klinge schlitzte ihr die Innenfläche der linken Hand auf. Doch ihr Stoß brachte den Angreifer so aus dem Tritt, dass er zu Boden stürzte.
Alles erstarrte; Rosamund saß unbeteiligt auf ihrem Stuhl, Eleanor war ebenso reglos dem Fenster zugewandt, in dem sich der Angriff gespiegelt hatte, Adelia stand da und starrte auf die Gestalt, die bäuchlings auf dem Boden vor ihren Füßen lag. Die Gestalt fauchte.
Wächter näherte sich ihr, schnüffelte und wich sogleich zurück.
Eine Sekunde lang. Dann schrie Lord Montignard auf, und der Mann im Kettenhemd hatte einen Fuß in den Rücken der liegenden Gestalt gedrückt und sein Schwert mit beiden Händen erhoben. Er bat Eleanor mit einem Blick um die Erlaubnis, zuzuschlagen.
»Nein.« Adelia dachte, sie hätte das Wort gekreischt, doch der Schock dämpfte ihre Stimme, so dass sie einigermaßen ruhig klang.
Der Mann achtete gar nicht auf sie. Unbeteiligt starrte er weiterhin auf die Königin, die eine Hand an den Kopf gehoben hatte.
Sie schien niederzusinken, doch nur, um sich hinzuknien. Die weißen Hände wurden jetzt gefaltet, das gekrönte Haupt gebeugt, und Eleanor von Aquitanien begann zu beten. »Allmächtiger Gott«, sagte sie, »Dank sei Dir von einer demütigen Königin. Du hast Deine Hand erhoben und diese, meine Feindin, zu einem Eisklumpen erstarren lassen. Selbst im Tod noch sandte sie ihre Kreatur gegen mich, doch Du hast der Klinge Einhalt geboten, damit ich, die unschuldig Betrogene, weiterleben kann, um Dir, meinem Herrn und Erlöser, zu dienen.«