Als Montignard ihr auf die Beine half, war sie erstaunlich gelassen. »Ich habe es gesehen«, sagte sie zu Adelia. »Ich habe gesehen, dass Gott dich zum Werkzeug meiner Rettung auserwählt hat. Bist du die Haushälterin? Man sagt, die Dirne hatte eine Haushälterin.«
»Nein. Ich heiße Adelia Aguilar. Ich vermute, das da ist die Haushälterin. Ihr Name ist Dakers.« Als sie auf die liegende Gestalt zeigte, betropfte sie sie mit ihrem Blut.
Königin Eleanor nahm es nicht zur Kenntnis. »Was machst du dann hier, Mädchen? Wie lange lebst du schon hier?«
»Nein, nein. Ich bin hier fremd. Wir sind erst vor etwa einer Stunde angekommen.« Eine Ewigkeit. »Ich war vorher noch nie hier. Ich bin vor kurzem erst die Treppe heraufgekommen, und habe … das da gefunden.«
»War diese Kreatur bei dir?« Eleanor deutete nachlässig auf die noch immer am Boden liegende Angreiferin.
»Nein. Ich habe sie nicht gesehen, erst gerade eben, sie muss sich irgendwo versteckt haben, als sie uns auf der Treppe gehört hat.«
Montignard trat näher und wedelte mit einem spitzen Dolch vor ihrem Gesicht herum. »Du erbärmliches Wesen, du sprichst mit deiner Königin. Erweise ihr Ehrerbietung, oder ich schlitz dir die Nase auf.« Er war ein gertenschlanker junger Mann mit sehr lockigem Haar und jetzt auch sehr mutig.
»Mylady«, fügte Adelia schleppend hinzu.
»Schluss damit, Monty«, zischte die Königin und wandte sich dem Mann im Kettenhemd zu. »Ist hier alles gesichert, Schwyz?«
»Gesichert?« Mit nach wie vor ausdrucksloser Miene gelang es Schwyz dennoch, den Eindruck zu vermitteln, als wäre der Turm ungefähr so robust wie eine Pusteblume. »Wir haben vier Männer in einer Barkasse gefangen genommen und drei hier unten.« Auch er sprach die Königin nicht formell an, wie Adelia bemerkte, doch Montignard drohte nicht damit, ihm die Nase aufzuschlitzen; der untersetzte Mann sah mit seinen stämmigen Beinen eher aus wie ein Fußsoldat als ein Ritter, und zweifelsohne hätte er die Haushälterin auf ein Nicken von Eleanor hin durchspießt wie einen zappelnden Fisch. Und Montignard gleich mit.
Ein Söldner, befand Adelia.
»Haben die drei Männer da unten dich mitgebracht?«, fragte die Königin.
»Ja.« Großer Gott, sie war müde. »Mylady«, schob sie nach.
»Warum?«
»Weil der Bischof von St. Albans mich gebeten hat, ihn zu begleiten.« Sollte Rowley doch ihre Fragen beantworten. So was konnte er gut.
»Rowley?« Die Stimme der Königin hatte sich verändert. »Rowley ist hier?« Sie wandte sich an Schwyz. »Wieso erfahre ich das nicht?«
»Vier Männer in dem Boot und drei unten«, wiederholte Schwyz gleichmütig. Er hatte einen leichten fremdartigen Akzent. »Wenn unter ihnen ein Bischof ist, dann weiß ich nichts davon.« Und es war ihm auch egal. »Bleiben wir die Nacht über hier?«
»Bis der junge König und der Abt von Eynsham eintreffen.«
Schwyz zuckte die Achseln.
Eleanor betrachtete Adelia genauer. »Wieso hat Seine Lordschaft von St. Albans eine seiner Frauen mit zum Wormhold Tower gebracht?«
»Das kann ich nicht sagen.« Sie hatte einfach nicht mehr die Kraft, den Ablauf der Ereignisse zu schildern und noch dazu begreiflich zu machen. Sie war so müde, so schockiert, so niedergedrückt von den Schrecknissen hier, dass sie nicht einmal die Unterstellung abstritt, »eine seiner Frauen« zu sein, obschon sie sich unwillkürlich fragte, wie viele das wohl sein mochten.
»Wir werden ihn fragen«, sagte Eleanor munter. Sie blickte zu der sich windenden Gestalt auf dem Boden hinunter. »Hebt sie hoch.«
Der Höfling Montignard drängte nach vorn und katapultierte das Messer der verhinderten Mörderin übertrieben dramatisch mit dem Fuß quer durch den Raum. Er zerrte sie unter Schwyz’ Stiefel hervor auf die Beine, schlang ihr einen Arm um die Brust und drückte ihr mit der anderen Hand seine Dolchspitze an den Hals.
Die Frau war tatsächlich der leibhaftige Tod – zumindest eine überzeugendere Verkörperung des Todes, als sie in den Mysterienspielen auf den Jahrmärkten zu sehen war. Die Kapuze eines schwarzen Umhangs war nach hinten gerutscht, vorstehende Wangenknochen und die gebleckten Zähne eines Schädels kamen zum Vorschein, an dem die bleiche Haut so straff gespannt war, dass man ihn in dem schlechten Licht für einen Totenschädel hätte halten können, wäre da nicht ein großer und wuchernder Leberfleck an der Oberlippe gewesen. Die Augen lagen tief in den Höhlen, wie dunkle Löcher. Es fehlte nur noch die Sense.
Noch immer fauchte sie zwischendurch, und die Worte waren mit Speichel vermischt. »… wag es nicht, die wahre Königin zu berühren, du Heuchlerin … mein Meister, mein dunkler Herr … deine Seele verbrennen … dich hinabstürzen … größte Abscheulichkeit.«
Eleanor beugte sich vor, legte erneut die Hand hinter ein Ohr und trat dann zurück. »Dämonen? Belial?« Sie sah ihr Publikum an. »Die Frau droht mir mit Belial.«
»Erlaubt mir, sie zu erdrosseln, Mylady. Lasst mich diesen Eiter ausbrennen«, flehte Montignard. Ein Blutstropfen erschien an der Spitze seines Dolches, der die Haut der Frau durchstoßen hatte.
»Lasst sie los!« Jetzt schaffte Adelia es, laut zu werden. »Sie ist verrückt und ohnehin schon halb tot, lasst sie los.« Instinktiv schlossen sich ihre Finger um das Handgelenk der Frau, wo sie einen bedrohlich langsamen Puls ertasteten und Knochen, die beinahe so kalt waren wie Rosamunds. Lieber Gott, wie lange hatte sie sich in dieser Eiskammer versteckt?
»Sie braucht Wärme«, sagte Adelia zu Eleanor. »Wir müssen sie aufwärmen.«
Die Königin sah auf Adelias flehend vorgestreckte Hand, von der noch immer Blut tropfte, dann auf die Haushälterin. Sie zuckte die Achseln. »Man erklärt uns, dass diese Kreatur Wärme benötigt, Monty. Vermutlich ist damit nicht gemeint, sie ins Feuer zu stoßen. Schafft sie nach unten, Schwyz, und kümmert Euch darum. Nicht zu grob, bitte. Wir werden sie später befragen.«
Mit finsterer Miene übergab der Höfling seine Gefangene an Schwyz, der sie zur Tür führte, einem seiner Männer einen Befehl erteilte und sie abführen ließ, ehe er zurück ins Zimmer kam. »Madam, wir sollten aufbrechen. Ich kann den Turm nicht verteidigen.«
»Noch nicht, Master Schwyz. Tut Eure Pflicht.«
Schwyz stapfte davon, kein glücklicher Mann.
Die Königin lächelte Adelia an. »Siehst du? Du bittest um das Leben dieser Frau, und ich gewähre es. Noblesse oblige. Was bin ich doch für eine großherzige Monarchin.«
Sie war beeindruckend, das musste Adelia ihr lassen. Die zittrige Schwäche des Schocks, durch die Adelias Beine einzuknicken drohten, schien dieser Frau fremd zu sein, als gehörten Mordanschläge zum Alltag einer Königin. Vielleicht war dem ja so.
Montignard zögerte. Er nickte Richtung Adelia. »Ich werde Euch nicht mit diesem Weib allein lassen, Lady. Wir wissen nicht, ob sie Übles im Schilde führt.«
»Mylord.« Eleanor hatte eine metaphorische Peitsche im Stiefel stecken. »Wer auch immer sie sein mag, sie hat mir das Leben gerettet. Wozu Ihr …« – die Peitsche knallte – »zu langsam wart. Und jetzt kümmert Euch um diese Eiterbeule. Überdies täte auch uns etwas Wärme wohl. Veranlasst das. Und bringt mir den Bischof von St. Albans.«
Reiner Selbsterhaltungstrieb half Adelia, die Bitte zu murmeln. »Und Weinbrand. Schickt Weinbrand herauf.« Inzwischen hatte sie sich die Wunde in ihrer Hand genauer angesehen. Sie war tief, und, Gott verfluche alle messerschwingenden Mörderinnen, sie brauchte ihre rechte Hand.
Die Königin erteilte mit einem Nicken die Erlaubnis. Sie machte keinerlei Anstalten, das Zimmer zu verlassen und nach unten zu gehen. Obwohl Adelia das eingedenk der armen Toten darin für abartig und schlechterdings unheilig hielt, war sie doch dankbar, dass ihr die Treppe zunächst erspart blieb. Sie schob sich aus dem königlichen Gesichtsfeld und ließ sich neben dem Bett zu Boden sinken.