»Ach ja?« Mit zwei Schritten war der Abt bei Adelia. Eine verblüffend gut manikürte Hand griff ihr unters Kinn und bog ihr den Kopf nach hinten. »Eine Königin verdankt dir ihr Leben, ja, mein Kind?«
Adelia blickte ausdruckslos, ebenso ausdruckslos, wie er sie anstarrte.
»Da hast du aber Glück gehabt, was?«, sagte er.
Er nahm die Hand weg und wandte sich zum Gehen. »Komm, mein Freund, möge das Narrenspiel beginnen.«
»Was ist mit ihr?« Schwyz deutete mit dem Daumen zum Schreibtisch.
»Lass sie verbrennen.«
»Und mit der da?« Der Daumen zeigte auf Adelia.
Das Achselzucken des Abtes ließ erkennen, dass Adelia gehen konnte oder mit verbrennen, ganz nach Belieben.
Sie blieb allein im Zimmer zurück. Wächter erkannte seine Chance, kam wieder herein und richtete seine Nase auf das Tablett mit der restlichen Kalbfleischpastete.
Adelia lauschte im Geist Rowleys Stimme. »Bürgerkrieg … Im Vergleich dazu wäre der Krieg zwischen Stephen und Matilda gar nichts … die Vier Apokalyptischen Reiter … ich höre schon das Donnern ihrer Hufe.«
Sie sind gekommen, Rowley. Sie sind hier. Gerade hab ich drei von ihnen gesehen.
Vom Schreibtisch kam ein leises Geräusch, als Rosamunds auftauender Körper nach vorn kippte.
Kapitel sieben
Da Eleanor gegen den Rat ihres Befehlshabers mit ihrer kleinen Truppe zum Wormhold Tower gezogen war, hatten sie ihr Ziel, nämlich zu dem größeren Rebellenheer zu stoßen, das in Oxford auf sie wartete, nicht erreichen können.
Jetzt wurde das Wetter schlechter, und Schwyz wollte die Königin möglichst schnell zum Treffpunkt bringen – Heere lösten sich rasch auf, wenn sie zu lange untätig blieben, vor allem in der kalten Jahreszeit –, und der schnellste Weg war der Fluss. Die Themse floss mehr oder weniger direkt von Norden nach Süden durch die rund sieben Meilen freies Land, das zwischen Wormhold und Oxford lag.
Da die Königin und ihre Dienerschaft vom letzten Lager aus geritten waren und Schwyz und seine Männer sie zu Fuß begleitet hatten, mussten Boote aufgetrieben werden. Und man hatte welche aufgetrieben. Ein paar. Wenn auch nicht die besten. Sie mussten genügen, um die wichtigsten Mitglieder des königlichen Gefolges und ein Kontingent von Schwyz’ Männern zu befördern, aber auch nicht alle.
Die niedrigeren Diener und der größte Teil der Soldaten würden für den Weg nach Oxford den Treidelpfad nehmen, was erheblich länger dauern und beschwerlicher werden würde als die Fahrt mit dem Boot. Außerdem mussten sie dabei die Pferde und Maultiere mitführen, die die Königin und ihr Gefolge mitgebracht hatten.
All das bekam Adelia mit, als sie in den untersten Raum des Turms kam, wo jetzt laute Befehle und Erklärungen das Chaos noch verschlimmerten.
Ein Soldat goss Öl auf einen großen Haufen aus zerschlagenem Mobiliar, während umherhastende Diener ihn anschrien, er solle mit dem Anzünden noch warten, bis sie die Truhen und Reisekisten und Kästen weggebracht hatten, die erst Stunden zuvor in den Wachraum geschleppt worden waren. Eleanor reiste mit großem Gepäck.
Schwyz brüllte sie an, alles zurückzulassen. Weder diejenigen, die in den wenigen Booten Platz finden würden, noch diejenigen, die über Land nach Oxford ziehen mussten, durften viel mitnehmen.
Entweder hörten sie ihn nicht, oder sie nahmen ihn nicht ernst. Er geriet noch mehr in Rage, als Eleanor partout nicht auf diese Dienerin oder jenen Diener verzichten wollte und die Auserwählten, auf die man sich schließlich geeinigt hatte, dann einfach nicht stillstanden, um sich zählen zu lassen. Das Problem schien teilweise darin zu bestehen, dass die Aquitanier kein Vertrauen in die Ehrlichkeit ihrer militärischen Verbündeten hatten. Eleanors Zofe kreischte, die königliche Garderobe könne doch keinen sales mercenaires anvertraut werden, und ein Mann, der anscheinend der Küchenmeister war, weigerte sich, auch nur einen einzigen Topf als mögliche Diebesbeute für die Soldaten zurückzulassen. So kam es, dass die Aquitanier im Gefolge der Königin lautstark streitend hin und her hasteten, um noch mehr Gepäck zu holen, von dem ohnehin nichts mitgenommen werden konnte, während sich Soldaten draußen vor dem Turm mit steif gefrorenem Zuggeschirr abmühten, die Pferde und Maultiere vorzubereiten.
In diesem Moment beschloss Adelia, dass sie, komme was da wolle, versuchen würde, zu dem Treidelpfad zu gelangen – und zwar schnell. Bei diesem Tohuwabohu würde niemand merken, wenn sie verschwand, und mit Glück und Gottes Gnade könnte sie es zu Fuß zurück zum Kloster schaffen.
Doch zuerst musste sie Rowley, Jacques und Walt finden.
Sie blieb auf der Treppe stehen und schaute sich das hektische Treiben an. Die drei waren nirgends zu sehen, man hatte sie wohl nach draußen gebracht. Dafür sah sie etwas anderes: eine schwarze Gestalt, die sich im Schatten der Mauer hielt, während sie sich Richtung Treppe bewegte, und zwar seltsam hüpfend, weil ihre Füße gefesselt waren. Der Strick, den man ihr um den Hals gelegt hatte, pendelte hin und her.
Adelia wich in das dunkle Treppenhaus zurück, und als die Gestalt auf den ersten Absatz gehüpft kam, packte sie ihren Arm. »Nein«, sagte sie.
Die Fesseln an Händen und Füßen der Haushälterin waren so straff, dass sie eine normale Frau zurückgehalten hätten, doch wer auch immer sie ihr angelegt hatte, er hatte nicht mit dem Abnormen gerechnet: Dakers war von dort, wo die Wachen sie allein gelassen hatten, weggehüpft, um wieder zu ihrer Herrin oben im Turm zu gelangen. Und dazu war sie nach wie vor fest entschlossen. Dakers sträubte sich mit aller Kraft, um Adelia abzuschütteln, ohne dass irgendwer mitbekam, wie die beiden Frauen miteinander rangen.
»Ihr werdet brennen«, zischte Adelia, »um Gottes willen, wollt Ihr wirklich mit ihr verbrennen?«
»Ja-a-a.«
»Das lasse ich nicht zu.«
Die Haushälterin war die Schwächere von beiden. Sie gab auf und drehte sich zu Adelia um. Sie war grob behandelt worden, ihre Nase blutete, und ein Auge war dick angeschwollen. »Lasst mich gehen, lasst mich gehen. Ich will bei ihr sein. Ich muss bei ihr sein.«
Wie verrückt. Wie traurig. Ein Soldat bereitete das Niederbrennen des Turms vor, die Diener hatten nur ihre eigenen Sorgen im Kopf.
Keinen kümmerte es, ob die verhinderte Mörderin der Königin in den Flammen umkam oder nicht, und die meisten hätten Ersteres vielleicht sogar begrüßt.
Das können sie nicht machen, sie ist wahnsinnig. Einer der Gründe, warum Adelia England liebte, war der, dass kein Gericht des Landes Dakers wegen des Mordanschlags auf die Königin zum Tode verurteilen würde, wenn es sah, wie es um ihre geistige Verfassung bestellt war. Eleanor selbst hatte sich daran gehalten. Nehmt die Frau in Gewahrsam, das ja, aber das vernünftige alte Diktum furiosus furore solum punitur (der Wahnsinn der Verrückten ist Strafe genug) verlangte, dass jeder, der einmal Vernunft besessen und durch Krankheit, Trauer oder sonstige Katastrophen die Fähigkeit zu vernünftigem Handeln verloren hatte, von der Schuld seines Verbrechens freigesprochen werden musste.
Es war eine Regel, die allem entsprach, woran Adelia glaubte, und sie würde nicht zulassen, dass sie umgangen wurde, auch wenn Dakers selbst nur allzu bereit dazu war und neben Rosamunds Leichnam in den Flammen sterben wollte. Das Leben war heilig. Niemand wusste das besser als eine Ärztin, die sich mit dem Tod befasste.
Die Frau wollte sich erneut losreißen. Adelia packte noch fester zu, obwohl sie körperlichen Ekel empfand. Sie, die Leichen nie abstoßend fand, war angewidert von diesem lebenden Körper, den sie jetzt so eng an sich drückte, von seiner Magerkeit – es war, als umarmte sie ein Bündel Stöcke –, von seiner Leidenschaft für den Tod.